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Amsterdam & Bonn, den 31. Dezember 2020
lettre
#007
 
edition

Spazieren
 
Bonjour à toutes et à tous!

Bienvenue und willkommen zu der - für dieses Jahr - letzten Ausgabe unseres kleinen Newsletters. Nun haben wir es geschafft und es fühlt sich auch echt gut an, dieses 2020 irgendwie überstanden zu haben. Und wir sind wirklich froh, jetzt nach vorne zu schauen, auch wenn wir nicht so richtig wissen, was auf uns alle zukommt. Wir hoffen einfach, uns endlich alle mal wieder mehr zusammen zu sehen zu können.

In Sachen Corona scheinen wir noch lange nicht über den Berg zu sein, aber trotzdem scheint dieser Jahreswechsel wie ein willkommener Zwischenstopp. Wir möchten 2020 erledigen, weil es uns mit den multiplen Krisen und massiven Freiheitseinschränkungen ziemlich belastet hat. Leider wird das Aufschlagen des Kalenders die Krisen der Gegenwart nicht wegfegen können, aber wir können uns mental darauf einstellen, ein neues Kapitel zu beginnen - neu anzufangen - wie wir in unserem ersten Newsletter schrieben.

Wir waren alle dabei, wie 2020 die Normalität zu Ende ging. Und wir sind 2021 da, um die neue Normalität zu formen. Weihnachten haben wir jetzt auch über die Bühne gebracht. Ein Fest, das irgendwie keines sein wollte, eine Party ohne Gäste oder jedenfalls nur mit dem engsten Kreis. Heute wird noch einmal so ein Tag sein. Aber Trübsal blasen hilft ja bekanntlich wenig und liegt auch ein bisschen unter unserem Anspruch. Wir denken also zu guter Letzt über einen Kleinen, und wie wir finden, ziemlich schönen Nebeneffekt dieser Zeit nach. Zum Abschluss dieses Jahres wollen wir Sie kurz auf eine kleine Runde um den Block oder gar raus aus der Stadt mitnehmen.

Es soll ums Spazieren gehen. Gewiss ist das Spazierengehen für die wenigsten eine gänzlich neue Beschäftigung, doch die Frequenz dieses Jahres ist zumindest für uns bisher unerreicht.

Wie gewohnt servieren wir dazu tolle Musik. Es gibt deutschen Pop auf Italienisch gesungen (klingt komisch ist es auch), Techno zum Spazieren (klingt auch komisch für manche), echten italienischen Pop, und als Absacker auf dieses Jahr den großartigen King Krule. Alle Songlinks aus den grünen Boxen führen seit ein paar Ausgaben zu Links von Songwhip und nicht mehr ausschließlich zu Spotify. Sie können dann ganz einfach auswählen, auf welcher Plattform Sie die Musik gerne hören möchte. Ganz oft ist da übrigens auch YouTube dabei, geht also auch prima ohne Abo. Die Playlist, auf der wir alle Songs sammeln, die wir in lettre vorstellen, bleibt jedoch exklusiv bei Spotify. Dort kann man auch unserem Account folgen.

Wir wünschen viel Vergnügen!
Musik N°1
Four Tet - Parallel (Album)

Es gibt zwei Arten spazieren zu gehen: Bei der einen geht man spazieren, um seine Umgebung zu erkunden. Man schaut sich um und beobachtet Menschen oder die Natur. Die Aufmerksamkeit richtet sich nach außen. Die andere Art ist nach innen gerichtet. Das spazieren, die Bewegung selber wird unbewusst und in den Mittelpunkt der Beobachtungen rückt der Spazierpartner oder man selbst. Wenn man alleine unterwegs ist, kann Musik auch ein guter Wegbegleiter sein. Ich gehe gerne mit der Musik von Four Tet spazieren. Es ist Musik, der man sowohl sehr gut zuhören als auch sich einfach von ihr berieseln lassen kann. Man kann sich in der Musik verlieren oder sich sich selbst wegen der Musik.

Es eignet sich jedes seiner Alben zum Spazieren gehen, doch an dieser Stelle möchte ich auf sein neuestes aufmerksam machen. “Parallel” ist noch ganz frisch, doch ein erstes Durchhören klang schon sehr vielversprechend.
Schwerpunkt.

Geschlossene Räume und Menschen galt es dieses Jahr getrennt voneinander zu genießen. Also hieß es: Raus an die frische Luft! Sollte es darüber noch Zweifel geben, können wir eine tolle Grafik der ZEIT empfehlen. Sie hat eine interaktive Simulation entwickelt (bzw. bei der spanischen El Pais abgeguckt), mit der man die Aerosolverbreitung verschiedenster Szenarien visualisieren kann. Bemerkung am Rande: Es ist auch schön zu sehen, dass man auch in deutschen Medien anfängt, etwas tiefer in die Datenvisualisierungs-Trickkiste zu greifen. 

Doch zurück zum Thema. Wir fingen also an, die Straßen unserer Kieze/ Veedel/ Grätzel und die (Stadt-)Wälder als Orte des Beisammenseins wieder zu entdecken. Heute verabreden wir uns zum Spaziergang statt zum gemeinsamen Frühstück und genehmigen uns draußen ein Getränk, statt in warmen Bars zu sitzen. Schuhe an, Thermoskanne voll, und losgeht’s. Profis packen noch schnell das Frühstück in den Rucksack.
Spazieren ist trendy und ein smarter neuer Volkssport, denn Gehen macht schlauer. Beim Spazieren führt die Bewegung dazu, dass sich unsere zwei Gehirnhälften vernetzen. Spazieren ist eine extrem energieeffiziente Fortbewegungsart, sodass dem Gehirn fast ein Fünftel unseres gesamten Energieumsatzes bleibt, um richtig gut zu denken. "Ich kann nur im Gehen denken" schrieb einst Jean-Jacques Rousseau und fand dort eine besondere Ruhe, die er rêverie (Träumerei) nannte. Beim Spazieren kommen Gedanken und Körper in Bewegung. Nietzsche meinte, man soll keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren wurde. Ob alleine oder gemeinsam unterwegs zu Fuß kommen Gedanken und Gespräche in einen gleichmäßigen Fluss.

Obwohl es bereits Spaziergangmeetings gibt gegen den Homeoffice Koller, und wir wohl einige unserer besten Ideen auf Spaziergängen geboren haben, einige unserer besten Gespräche geführt haben, dürfen wir auch einfach träumen und faulenzen, wenn wir die Beine in die Hand nehmen und loslaufen. Da ist sie dann wieder diese rêverie von der Rousseau sprach. Wir notieren für das nächste Jahr: von langen Spaziergängen träumen und noch besser lange träumen beim Spazieren.
Musik N°2
Crucchi Gang & Faber - Vieni qui

Sven Regener, Sänger der tollen Band Element of Crime und Buchautor und Francesco Wilking, Teil der ebenfalls sehr guten Band Die Höchste Eisenbahn, hatten eine Idee. Sie riefen ihre deutschen Musikerfreunde an und ließen sie ihre ins italienische übersetzten Songs einsingen. Geboren war die Crucchi Gang, die “Gang der Deutschen” (Cruccho ist im italienischen ein abfälliger Begriff für Deutsche, den man hier kapert).
Das klingt zunächst nach einem abenteuerlichen Unterfangen, die aufkommende Skepsis ist durchaus verständlich. Doch wir können Ihnen versichern, die Platte macht großen Spaß. Nicht nur, weil sie eine tolle Compilation deutscher Popmusik ist (Regener und Wilking haben wohl ziemlich coole Freunde), sondern vor allem weil italenisch eine echt schöne Sprache ist und die Songs erstaunlich gut funktionieren. Ein deutscher Akzent ist je nach Interpret mal mehr, mal weniger ausgeprägt, doch das stört nur kaum. Es ist interessant zu beobachten, wie schnell man die italienischen Silben mitsingt, weil die Melodien so bekannt sind und beginnt das Lied Stück für Stück wieder in sein deutsches Original zu übersetzen.

Ein Heimspiel ist das ganze (unter anderem) für Faber. Seine Version von “Komm her” ist das Stück auf dem Album, welches am stärksten von seinem Original abweicht und neben “La dolce vita” und “Valzer per nessuno” und uns in der Crucci Gang Version besser gefallen als in ihrer ursprünglichen Fassung.
Über Städte.

Es fällt auch auf, wie wenig Städte dafür gemacht sind in ihnen herumspazieren. Städte sind zum Großteil höchst funktionale Orte. Herumstreunende Stadtbewohner scheinen oft nicht ganz im Sinne des Erfinders. Spaziergänger finden kaum Platz, weil Spazieren keine Notwendigkeit darstellt. Wir könnten viel schneller und ohne große Anstrengung mit unzähligen motorisierten Dingern durch die Stadt flitzen. Wollen wir aber nicht.

Wir wollen flanieren wie einst Baudelaire in Paris. Walter Benjamin machte den Flâneur zur Figur. Für Benjamin (wie schon für Baudelaire vor ihm) ist der Flâneur jemand, der ohne ein bestimmtes Ziel oder einen bestimmten Zweck durch die Stadt schlendert - und damit ungewöhnlich offen ist für die Vielzahl der Dinge, die dort vor sich gehen.

Gehwege wirken größtenteils als notwendiges Anhängsel zu einer Straße, bedeckt gerade den Weg vom Auto zur Tür. Die wenigsten Parks haben eine Größe, die sie im wahrsten Sinne des Wortes begehbar machen. In Berlin gar sehen sie manchmal mehr aus wie eine Mischung aus Savanne und Recyclinghof. In Paris sind sie schön, aber zu klein und nachts verschlossen. Amsterdam vereint beides und kennt keine der besprochenen Nachteile. Dennoch regen uns Parks zum verweilen an und wir freuen uns jedes Mal wenn wir mal wieder etwas reinere Luft einatmen können und das bis in die Lunge spüren.

Wir könnten anfangen unsere Städte wieder zurück zu erobern. Auf dem Rad oder zu Fuß neu entdecken. Fußgängerbrücken und neue Radwege sind der erste kleine Schritt dazu. Aber neben Möglichkeiten der Mobilität sollten wir auch nonkommerzielle Orte zum Aufenthalt schaffen. Wie Sie merken, sind Städte ein wiederkehrendes Thema dieses Newsletters. Ein paar weitere Gedanken haben wir vor ein paar Monaten mal hier zusammengetragen. Hier notieren wir uns für 2021: mehr Flâneur, weniger moteur in der Stadt.
Über Navigation.

Spazieren gehen, das hat etwas Meditatives, das Gehen lenkt einen ab und macht den Kopf frei. Die besten Spaziergänge sind jene, bei denen man den Weg gar nicht mehr wahrnimmt, bei denen man plötzlich an einem neuen Ort aufwacht, ohne sich zu erinnern, wie genau man dort hingelangt ist. Anders als beim Wandern sollte der Weg ganz bewusst nicht das Ziel sein. Ich finde, es hilft, ohne Ziel spazieren zu gehen, die Richtung an jeder Kreuzung oder Weggabelung neu zu bestimmen oder sich gänzlich treiben zu lassen. Zugegeben, der Rückweg kann unter Umständen unerwartet lang werden. Alternativ kann man die Navigationsverantwortung auch einfach an einen Partner abdrücken. Je nach Ortskenntnis kann das dann auch zu einem kleinen Abenteuer werden. 

Das schöne am gemeinsamen Rundendrehen ist, dass man sich ganz herrlich voll und ganz auf seinen Partner einlassen kann. Oder gewissermaßen muss. Ein Spaziergang ist ein Commitment ohne Notausstieg. Das klingt erst mal etwas rabiat, doch der Gedanke ist eigentlich ein sehr romantischer. Wo erleben wir etwas Vergleichbares heutzutage noch? Es ist Zeit, die sich bedingungslos und exklusiv auf das gemeinsame Beisammensein reduziert. Es sind Orte und Momente, an denen es noch verpönt ist, das Handy vor dem Gegenüber zu zücken. Spazieren gehen ist der gemeinsame Barbesuch in Zeiten der Pandemie.
Beim Spazieren geht es also weniger um die Fortbewegung an sich, der Ort des Geschehens ist eigentlich egal, es geht um die Zeit, die wir uns dadurch schenken. Uns ganz persönlich beim Soloausgang oder den Menschen, die wir mit auf unsere kleinen Reisen nehmen.
Musik N°3
Lucio Battisti - Amarsi un po'
 

Ich habe lange überlegt, welchen Sound ich hier empfehlen möchte. Ob Jazz oder was brandheißes wie z. B. das grandiose Album "Future Nostalgia" von Dua Lipa, die mit ihrem tanzbaren Pop 2020 einfach wegbläst und schamlos ignoriert oder aber den neuen Track von DARKSIDE? Stattdessen habe ich mich einfach für eine Botschaft entschieden und “richtigen” italienischen Sound. Amarsi un po’ - Liebt einander ein bisschen. Das machen wir doch gerne!

Solche Perlen entdeckt man nur, wenn man mal das Haus verlässt.
Über 2020.
 

2020 war ein verrücktes Jahr (und ein beängstigendes). Für Felix war der tägliche Spaziergang für eine Weile in 2020 sogar die einzige Möglichkeit, überhaupt das Haus zu verlassen. Die Welt schrumpfte auf die paar Straßen im Radius von einem Kilometer um seine Haustür herum. Glücklich konnte sich derjenige schätzen, der einen Park in der Nähe seiner Pariser Wohnung verzeichnen konnte. Jan fällt es schwer, sich das vorzustellen. Dabei ist Frankreich bei Weitem nicht das einzige Land, das zu solch extremen Maßnahmen gegriffen hat. In Deutschland konnten wir uns trotz aller Einschränkungen immer noch nach eigenem Ermessen frei bewegen. Das sollten wir zu schätzen wissen. Viel mehr aber fragen wir uns, wieso es immer noch keine ernsthafte europäische Antwort auf diese Krise gibt. Warum wir es nicht schaffen in einem kollektiven Kraftakt - von beispielsweise einem Monat komplettem Lockdown (Spazieren erlaubt) die Infektionszahlen kräftig nach unten zu schrauben? Wieso wir unsere Pfleger und Krankenschwestern nicht besser schützen können und den Älteren nicht mehr Gesellschaft leisten können? Fragen über Fragen, aber heute Abend stoßen wir trotzdem an.

Wir beide können uns glücklich schätzen, dass sich für uns mitunter neue Räume eröffnet haben, dass wir in diesem Jahr den Luxus genießen konnten, die uns gegebene Zeit nach eigenen Wünschen mit Inhalt zu füllen. Wir freuen uns sehr, dass Sie uns hier lesen und sind dankbar und gerührt über die vielen warmen Worte, die uns über die letzten Monate erreicht haben. Das macht dieses Jahr für uns um einiges erträglicher. Danke.

Wir hoffen, dass wir Sie auch im nächsten Jahr ab und zu mit ein paar Gedanken und etwas Musik beliefern dürfen. Wir würden uns freuen, Sie weiterhin an Bord zu haben.

Wie immer: Bleiben Sie uns gewogen.

Bis zum nächsten Mal, alles Gute und einen guten Rutsch!

Felix & Jan
Musik N°4
King Krule - easy easy 
 
Der Sound von King Krule ist ein ganz guter Soundtrack für dieses Jahr. Wir haben schon mal in unserer Reihe Soundtrack der Woche über ihn geschrieben. 
Es bedarf einiges an Zeit, um sich mit dieser Musik vertraut zu machen und Gefallen an ihr zu finden, doch glauben Sie uns, es lohnt sich. Es ist sicher keine Musik für jede Zeit, doch im richtigen Moment gibt es keine Bessere. 
Lassen Sie uns dieses Jahr mit ein paar Zeilen aus “easy easy” abschließen.
 
When positivity seems hard to reach
I keep my head down and my mouth shut
Cause if you going through hell
We just keep going

You're easy
So easy
You're easy
Man just leave us alone
I'll be one minute on the phone
Zum Abschluss noch einen Drink.
Il fine.

Das war unser siebter Newsletter. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen. Wir freuen uns über Feedback, etwaiges Weiterempfehlen und auch über neue Abonnements. Tatsächlich wird sonst niemand von diesem Newsletter erfahren, da wir keine Werbung machen. Es bleibt also nur Ihre Empfehlung. Newsletter haben nachwievor etwas von Spam, Werbung, Nötigung. Leider, denn damit wollen wir nichts zu tun haben. In der ersten Ausgabe haben wir geschrieben, warum wir das Medium Email so toll finden. Antworten und Feedback gerne an uns! Die Email zum lettre heißt: newsletter@kollektivindividualismus.de. Und im Internet kann man nach wie vor unsere Website besuchen, abhängen und staunen. Und ein Archiv haben wir auch.
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Bildcredits: © Felix Vieg © Jan Nitschke  © Felix Vieg © Felix Vieg © Jan Nitschke

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