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Hamburg & Paris, den 21. März 2021
lettre
#008
 
edition

Normalität
 
Bonjour à toutes et à tous!

Oh was freuen wir uns, zurück zu sein! Herzlich Willkommen zu der achten Ausgabe unseres Newsletters. Wurden wir eigentlich vermisst im Januar und im kurzen Februar? Wir haben schon Mitte März!? Nun ja, wir hatten beide einen etwas turbulenten und aufregenden Start ins neue Jahr, aber jetzt versuchen wir wieder monatlich zu senden, versprochen.

Tatsächlich ermöglicht uns doch der Newsletter sowohl das Ausbrechen aus dem nach wie vor von Corona bestimmten Alltag wie auch den Kontakt zu unseren mittlerweile über 100 Abonnenten und Abonnentinnen. Juhu! 💌 Wir freuen uns über jedes einzelne Lesen und natürlich auch über Feedback und Weiterempfehlungen! Dies ist ein Projekt von Freunden für Freunde. Ein kleiner Einblick in die Musik, die wir gerne hören oder der Gedanken, die uns gerade umtreiben.

Im Januar mussten wir sehr über diesen Tweet von El Hotzo lachen, weil er charmant illustrierte, wie spazieren und zoomen uns so langsam zum Hals heraushängt.
Wir zwei sind stets Fans vom Spaziergang gewesen und der letzten Ausgabe haben wir darübergeschrieben. Wir bleiben Fans des Flanierens, aber ja natürlich nervt Corona und wir wünschen uns alle, dass die damit verbundenen Einschränkungen ein Ende nehmen. Über die allgemeine Zoomfatigue haben wir ja auch hier schon geschrieben.
 
In Ausgabe sieben unseres kleinen Newsletters haben wir davon geschrieben, wie im Jahr 2020 vermutlich die Normalität zu Ende ging und so wollen wir jetzt gemeinsam klären, was das eigentlich bedeutet. Wir sehnen uns vermutlich alle nach etwas Normalität - besonders heute. So widmen wir uns einem Thema, das sonst häufig zu kurz kommt, eben weil Normalität ihrer Natur nach nur selten Gegenstand näherer Betrachtung ist. Außerdem werden wir durch eine Auseinandersetzung mit dem Thema Normalität schließlich erfahren oder zumindest besser verstehen, in was für einer Gesellschaft wir eigentlich leben (wollen)?

Wie Sie vielleicht bemerkt haben (eine bescheidene Einführung in den französischen Chanson gab es bereits in Ausgabe #006), sind wir zwei recht "francophil" und geben daher diesem Newsletter mal wieder etwas French touch.

Aber jetzt back to normal! Lehnen Sie sich zurück, machen Sie sich einen Tee oder Kaffee. Viel Vergnügen bei einer extra-langen Runde Ideen Ping-Pong!
Musik N°1
Daft Punk - Veridis Quo

Zwei helmtragende Retro-Futuristen aus Frankreich hören auf Musik zu machen, nach 28 sehr(!) erfolgreichen Jahren. Das Ende von Daft Punk hat in Paris alle noch mal kurz zu Daft Punk Liebhabern gemacht. Augenblicklich setzen große Nostalgie und informelle Staatstrauer ein, wusste man doch, dass die beiden Avantgardisten französischer Musik nicht mehr zurückkehren würden. Dabei haben Daft Punk ihr letztes Album vor acht Jahren rausgebracht, es war also schon länger still gewesen um sie. Das große Echo ihres Abschieds spricht Bände über die Bedeutung des Duos für Frankreich und darüber hinweg.

Wer auch nur vage Erinnerungen an den Sound hat, Daft Punk im Supermarkt gehört hat, wusste doch: hier gehen Superstars und Lieblinge. Tatsächlich wurde Daft Punk bereits 2017 pre-mortem beendet, durch ein Medley der französischen Armee beim Bastille Tag, dem 14. Juli. Wenn Macron sich ein stolzes Grinsen nicht verkneifen kann und Trumps Haare im Takt wippen, ist jedes Avantgarde-Projekt beendet. Punkt. Schlimm ist das überhaupt nicht, genauso wenig wie das offizielle Ende von Daft Punkt, denn die fantastische Musik wird uns noch lange erhalten bleiben. Wie es jemand auf Youtube formulierte: “Daft Punk didn't die, they simply became music.”

Das eindeutig bessere Medley kommt übrigens aus Köln vom Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld und findet sich hier. Falls Sie sich fragen, warum Lorenz Rhode immer einen Schlauch im Mund stecken hat beim “singen”, hören Sie selbst von ihm, suchen Sie mal im Internet nach “Talkbox” und tatsächlich war Daft Punk Pionier dieser Technik.
Photographed by Karl Lagerfeld for Interview Magazine
Das legendäre Duo, gegründet 1993, hat dabei geholfen, den französischen Stil der House-Musik zu definieren (French-touch) und ihn durch Öffnung zu demokratisieren. Ihr erstes Album Homework war ein Wahrzeichen der Dance-Musik, man nur denke an den ikonischen Sound von Around the World. Daft Punk begann schnell zu einer ikonischen audio-visuellen Erfahrung zu werden – die Roboteroutfits begannen ihr Markenzeichen zu werden – spätestens mit dem zweiten Album Discovery, welches uns persönlich besonders gefällt, weil hier Vocals und Farbe zum technischen Klang dazu kamen. Sicherlich begann 2001 genau deswegen auch der kometenhafte Aufstieg.

Quo vadis? Unsere Empfehlung ist der Track Veridis Quo, der pseudo Titeltrack von eben diesem Album! Den Zaubertrick verbringen Sie, indem sie Veridis Quo einmal aussprechen, feststellen, dass es eine beschreibung des Sounds von Daft Punk ist: very disco. Lu à l’envers ergibt sich dann Discovery. Mit den kleinen Flöten und den schönen Akkorden, Mix, Soundauswahl, Tempo und Melodie ist es bei allem Minimalismus eine Perfektion. Wozu das Ganze? (quo vadis) ist die Frage nach dem großen Ganzen und wahrscheinlich eine akkurate Beschreibung von Daft Punks musikalischem Projekt, das sich wie kein anderes für die Mensch(!)-Maschine Verbindung und den Einsatz von Technologie durch den Menschen interessiert hat und 2005 mit rotzigem Gitarrensound attestiert: Human After All. Bei Daft Punk ist der Zweifel ständig präsent: Ist die Maschine der Verbündete des Musikers, die Erweiterung seiner kreativen Kraft - oder ist sie sein Feind, der ihn automatisiert und zum Sklaven macht?

Daft Punks Auftreten entspricht ansatzweise den Gegebenheiten unserer Zeit: Wir leben durch Avatare und digitale Welten, die reale Welt und unsere Normalität rückt in die Ferne. Die Maske und die Distanz, die Nutzung der Maschine sind ein ästhetisches Zeugnis unserer Zeit. Nun schaltet Daft Punk die Maschine ab und hat offensichtlich beschlossen sich deren Zwang von Harder, Better, Faster, Stronger nicht mehr zu unterwerfen.

Weitere Anspielstationen: Beyond, Instant Crush und Something About Us

R.I.P. Daft Punk und viel Spaß beim Wiederentdecken dieser wahnsinnigen Musik!
Schwerpunkt.

Covid nervt. Wann lassen die Belastungen endlich nach? Wer in diesen Tagen mal wieder eine Zeitung aufschlägt, findet dort die große Sehnsucht zur Rückkehr der Normalität. "Mehr Normalität ab Ostern", "Normalität ab Sommer", "Ein Stück Normalität auf Termin", „Müssen Kindern alte Normalität zurückgeben!“ usw. Und natürlich geht es uns nicht ganz anders. Aber sorry, was heißt das denn jetzt konkret? Wohin wünschen wir uns eigentlich zurück?

Versuchen wir mal ganz grundsätzlich zu beginnen. Normalität ist das Selbstverständliche einer Gesellschaft. Normal ist folglich, was wir gewohnt sind. Das Normale ist a priori gegeben. Das heißt das allgemein verbreitete, durchschnittliche Leben, welches wir leben. Die Wahrnehmung dieser ist erst einmal subjektiv und wir mögen alle leicht unterschiedliche Auffassungen von Normalität haben. Implizit verständigt sich eine Gesellschaft wohl aber immer auch auf ein kollektives Verständnis von Normalität.
Die Statistik kann versuchen, diese Realität mathematisch nüchtern zu beschreiben. Wir benutzen dazu Konzepte wie Normalverteilungen, Durchschnitte, Mittelwerte und Standardabweichungen. Wir leiten das Normale aus dem Beobachteten ab. Gleichzeitig beinhaltet die Verwendung des Begriffes Normalität auch eine Norm, die Werte also, an denen man sich orientieren sollte. Wir verwenden das Wort normal, um erwünschtes, akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten auszuweisen. Wir sehen also eine Doppeldeutigkeit von deskriptiver und normativer Normalität. So weit, so gut.
 
Ergänzen wir diese beiden Varianten um die temporale Dimension. Verstehen wir den Durchschnitt, das Beobachtbare als die Gegenwart. Wir beschreiben z. B. wie wir leben. Die Frage nach der Norm geht darüber hinaus – auf das Höhere in die Zukunft. Wir fragen uns z. B. wie wir leben wollen. Jetzt wird es spannend! Denken wir Normalität mit der zeitlichen Variablen, entstehen womöglich Konflikte. Wir halten fest: Normalität normativ zu verwenden ist also tückisch.
“Wer den Normen entspricht, kann es sich leisten zu bezweifeln, dass es sie gibt.”
 
― Carolin Emcke
Carolin Emcke beschreibt das ziemlich greifbar in ihrem (vielleicht besten) Buch Wie wir begehren, das Jan Felix mal empfahl und beide begeisterte. Dabei beschreibt sie, ähnlich wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu, wie die Gesellschaft uns Plätze zuweist, Urteile ausspricht (z. B. was normal ist und was nicht), denen wir uns nicht entziehen können. Womöglich unabsichtlich errichtet man somit Grenzen und bringt Individuen und Gruppen in eine hierarchische Ordnung. Diese Erzählung findet sich ebenfalls in Didier Eribons Werk Rückkehr nach Reims und noch sprachgewaltigeren in Ende von Eddy von Édouard Louis beschrieben. Beide Bücher möchte ich jedem ans Herz legen!
 
Normalität spielt unweigerlich eine Rolle in unserem Alltag. Es ist praktikabel, nicht ständig alle denkbaren Werte zu hinterfragen. Normalität ermöglicht uns Handlungsfähigkeit, darf unsere Reflexionsfähigkeit aber nicht einschränken. Eine moralisch fragwürdige Nutzung vom Begriff "Normalität" in (gerade sehr angesagten, fragt Thierse, SPD) identitätspolitischen Diskussionen ist dafür ein gutes Beispiel. Wir behaupten daher, dass Normalität nicht zur Kategorie politischer Auseinandersetzungen werden sollte. Eine sehr gute und ausgewogene Einführung in die Diskussion um Verteilung oder Anerkennung gibt es im Heft APUZ, welches online zur Verfügung steht und kostenlos bestellt werden kann (übrigens genauso wie das sehr lesenswerte Magazin Fluter der BPB!)
 
Übrigens wird in der Diskussion um Identitätspolitik ein Teil konsequent ignoriert. Wie Jonas Schaible im SPIEGEL schreibt, wird das, solange es so bleibt “nur Verletzungen produzieren keine Erkenntnis.” Identitätspolitik ist überall, nur wird sie nur dann nicht von der Mehrheit erkannt als solche, solange die sich mit dem Normalen beschäftige. “Das Normale steht nicht unter Rechtfertigungsdruck, das Normale steht nie unter Ideologieverdacht.” Das zeigte sich bei der irren Debatte um das Einfamilienhaus, die sich rasant schnell wegbewegte von sachlichen, ökologischen und sozialen zu immateriellen, kulturellen und emotionalen Gründen – und so genau wird eine Gruppenzugehörigkeit ins Zentrum der Politik gerückt. Das Lob der Einfamilienhäuser ist ein Beispiel für Identitätspolitik der Normalität.
Musik N°2
Jakie Quartz - Mise au point & Yuksek - Icare

Es ist eine Anekdote aus dem Alltag, die Ariane (Mélanie Thierry) ihrem Psychater (Frédéric Pierrot) erzählt: Sie habe auf dem Rad gehört wie im Auto neben ihr dieser eine Song aus den 80ern gehört wurde und musste spontan mitsingen. Mise au point war der Sommerhit 1983 in Frankreich und kommt auf die Playlist unseres Newsletters. Viel mehr noch als dieser Track, ist die Serie En Thérapie ein Hit - ein Meisterwerk, ein chef-d’œuvre! Und eine grandiose Erzählung über Normalität. Verfügbar auf Deutsch und Französisch in der Arte Mediathek. Wer kann, sollte auf Französisch schauen.
Mein coup de cœur zum Jahresbeginn ist also eine Serie über das Frankreich nach den Anschlägen vom November 2015. In Therapie ermöglicht ein tiefes Eintauchen in die französische Gesellschaft und ihre Traumata und ist eine sehr feinfühlige Aufnahme und eine grandiose Erzählung über Normalität. Pariser sind das lebendige Treiben auf den Terrassen der Bars, Cafés und Restaurants gewöhnt. Eine Normalität, die brutal und auf abscheuliche Art angegriffen wird. Die Serie verfolgt die Sitzungen eines Pariser Psychiaters (Frédéric Pierrot, fantastisch!) in seinem cabinet. Von einem Patienten zum anderen nimmt die Serie uns mit, um herauszufinden: Katharsis ist ebenso individuell wie kollektiv. Mal wieder so ein kollektiv individualismus.
 
Jede Woche empfängt Philippe Dayan in seiner Praxis eine Chirurgin in Auflösung, ein Paar in der Krise, einen Teenager mit Selbstmordgedanken und einen BRI-Agenten (franz. Spezialeinheit), der durch seinen Einsatz im Bataclan traumatisiert ist. Das emotionale Erdbeben, das diese zerrütteten Leben bei ihm auslösen, ist beispiellos. Um dem zu entkommen (und das ist das Spannende an In Therapie) nimmt er selbst Hilfe seiner ehemaligen Analytikerin in Anspruch, zu der er fast 12 Jahre lang den Kontakt abgebrochen hatte.
 
Was die Serie auszeichnet, ist ihr minimalistischer Fokus auf den puren Dialog zwischen Menschen. Das Schauspiel, die Verkörperung der Charaktere, ist meines Erachtens exzellent (allesamt französische Schauspielstars oder Angehende wie Céleste Brunnquell). Dahingehend ist die Serie auch keine "einfache" Serie, sondern durchaus anspruchsvolle Unterhaltung, deren dramatischer Gehalt von Folge zu Folge steigt und mich persönlich berührt hat. Normalerweise findet die Arbeit des Psychoanalytikers hinter geschlossenen Türen statt, das Gesagte bleibt im Raum. Jetzt sind wir direkt dabei bei allen Sitzungen (eine Episode = eine Sitzung). Wir sehen uns hören alles und wir müssen uns wie Philippe damit auseinandersetzen. Wie der Analytiker da auf seinem Sessel sitzt und zuhört, nie seine Meinung sagt, sondern spiegelt und zurückspielt, so kann man Vorwürfe Adels (dem Elitepolizisten) auch sehr wohl auch auf sich selbst beziehen: immer passiv zu bleiben, zu träumen und sich nur kluge Gedanken zu machen, statt zu handeln und sich einzusetzen so wie er, der Polizist, damit "die Welt da draußen nicht zusammenbricht".

Empfehlung: unbedingt ansehen! Man braucht etwas Geduld für die ersten 4 Episoden, dann nimmt die Serie erst so richtig Fahrt auf. Die Musik zur Serie hat der französische Produzent und DJ Yuksek geschrieben, von dem wir einen weiteren, tanzbaren Track hören, und zwar Icare.
Naturalistischer Fehlschluss
 
Was einfällt, wenn man über Normalität nachdenkt, ist ein Konzept der Ethik. Das möchten wir hier kurz teilen, weil es oft auftaucht in unserem Alltag. Obwohl wir als Menschen oft vom Gewohnten auf das Gewünschte schließen, lässt sich das eine aus dem anderen nicht ableiten - man beginge einen naturalistischen Fehlschluss. (Aus den natürlichen Eigenschaften von X darauf zu schließen, dass X gut ist. Die intuitive Idee ist, dass evaluative Schlussfolgerungen mindestens eine evaluative Prämisse erfordern - rein faktische Prämissen über die naturalistischen Eigenschaften von Dingen ziehen keine evaluativen Schlussfolgerungen nach sich.) Mehr für Philo-Nerds und im Übrigen eine hervorragende Ressource findet sich hier auf der Seite der Stanford Encyclopedia of Philosophy.
Musik N°3
Arlo Parks – Angel's Song
 
Wo sollen wir bei so viel Gutem anfangen? Es fällt schwer, den einen Arlo Parks Song herauszupicken. Wir wollen es trotzdem mal mit Angel’s Song versuchen, einer melancholischen Ballade. Ihre besten Songs kommen mit sehr wenig Tamtam aus, weil sie sie dadurch in den Mittelpunkt stellen. Doch wir können zweifelsfrei ihre gesamte, wenn auch noch relativ junge Diskografie empfehlen. Mit von der Partie: zwei tolle Cover von Radiohead (Creep) und King Krule (Baby Blue). Sie zieht die Originale aus, bis nur noch der Text und ein einzelnes Instrument übrig bleiben, Konzentration auf das Wesentliche. Das funktioniert vor allem bei zwei so starken Texten sehr gut. Ihre eigenen Songs sind cooler Pop (von der guten Sorte), Wohlfühlmusik, die es auch mal braucht. Ach, es macht einfach Spaß ihr zuzuhören.
Kratzer und Staatsversagen

Jetzt mal etwas praktischer: Corona hat am schönen Schein unserer Realität gekratzt, so viel scheint sicher. Nicht so sicher ist, wie es jetzt weitergeht. In der Einleitung und im letzten Newsletter schrieben wir, dass 2020 womöglich die Normalität zu Ende ging. Das möchten wir jetzt mal ein bisschen genauer erklären. 
Vor allem in Deutschland (aber auch in vielen Teilen Europas) kamen wir aus einer Zeit scheinbar großer Stabilität in die Coronakrise und viele wünschen sich nun endlich ihre alte Normalität zurück. 2020 war wirklich scheiße und nur ein blödes Ausreißerjahr. Und dafür hat 2020 auch ganz schön was abbekommen. "I didn't sign up for this" oder so ähnlich hieß es oft letztes Jahr. Aber wenn wir alle geimpft sind, geht es dann einfach zurück zur Vermeintlichen vor Coronanormalität. Kommt jetzt endlich eine fröhliche Dekade?

Leider ist das trügerischer Leichtsinn. Sorry. Das Jahr 2021 bringt vermutlich die Erkenntnis, dass die Normalität, die wir uns zurückwünschen nicht mehr verfügbar ist. What? Warum? Weil die jetzige Megakrise die Konsequenz war von ganz vielen angestauten Krisen der Vergangenheit. Darüber sprechen wir nicht oder viel zu wenig. Sasha Lobo hat es kürzlich im SPIEGEL getan und es bei Markus Lanz einem sichtlich überforderten Herrn Brinkhaus erklärt. Uns trifft diese Krise derartig heftig, weil wir wichtige Investitionen in unsere Zukunft unterlassen haben. Wir haben am Gesundheitssystem gespart, an der Digitalisierung, der Verwaltung, am Bildungssystem, an der Bekämpfung des Klimawandels, kurz gesagt: an der Resilienz unserer Gesellschaft. Wir stellen fest, dass wir gar nicht mehr in Einklang mit dieser vermeintlichen Normalität sind, unsere romantische, nostalgische Normalitätsdefinition hält nicht mehr stand gegen die wahre Normalität. Das, was wir als Normal betrachten, hat immer weniger mit der gegenwärtigen Realität gemein, ist illusorisch.
Normalität als Krisenlandschaft

Wir können die neue Unsicherheit als etwas Negatives verstehen, aber auch als das Ende von Status-Quo-Glorifizierung, der Verherrlichung einer Normalität, die eigentlich eine Krisenlandschaft ist.
 
Mit all den Krisen, die wir in diesem Jahrhundert bereits erlebt haben, der Finanzkrise, der sogenannten Flüchtlingskrise usw. wurde immer versucht, sie als Ausnahme zu titulieren. Im Anschluss wunderte man sich dann immer aufs Neue, dass schon wieder eine Krise daher kommt - wie jetzt mit Corona. Das Versprechen war immer: Wir halten die Normalität trotzdem aufrecht. Dieses Stabilitätsversprechen der Ära Merkel wurde zum Anspruch der Menschen, weil er in den letzten Jahrzehnten nicht widerlegt oder nicht zwingend genug angesprochen wurde. Bis dato war nach der nächsten Krise wieder alles normal. Doch damit wird jetzt gebrochen! Das war eine Krise zu viel. Das jetzt wieder Normalität kommt, das ist ausgeschlossen. Die Maxime unserer Krisenbewältigung ist geleitet von einer großen Normalität-Nostalgie. Wir wollten immer schnell zurück zu den vorherigen Verhältnissen. Anstatt aus der Krise zu lernen und einen Schritt nach vorne zu machen, ist das Ziel immer das Stadium von vor der Krise zu erreichen.
Wochenendflucht an die Atlantikküste, Frankreich 2021
Nichts spricht gegen warme Erinnerungen und ein bisschen Nostalgie. Aber Obacht, Freunde der Weisheit! Zum Problem wird die Sehnsucht nach der vermeintlichen Normalität dann, wenn sie eine Ankunft in der Gegenwart erschwert, die Anpassung an das Hier und Jetzt und an unser "Morgen" komplizierter macht. So schreibt ein Politiker wie Olaf Scholz beispielsweise gerne auf, was vor zwei Jahren mal cool war, weil das den Leuten auch ganz gut gefallen hat.
 
“Digitalisierung voranbringen”, zieht immer noch als Punshline für Wahlkampfauftritte und gilt als progressiv, ist aber in den allermeisten Fällen ähnlich inhaltsleer wie Texte im Gangster-Rap. Das ist peinlich. Faxgeräte im Jahr 2021 sind nicht normal, das sollte keiner Normalität entsprechen. Wie um Himmels willen kann Deutschland digitalisierungstechnisch so mies dastehen und daraus keine anderen Konsequenzen ziehen außer: Digitalisierung voranbringen.
Musik N°4
L'impératrice - Peur des filles

T'as peur des filles
Ah si seulement c'était des gars
Peur des filles
Elles préparent un sale coup ça s'voit

Wir bleiben in Frankreich, den der kokette und charmante Pop von L'Impératrice ist zurück. Im bald erscheinenden Album geht es um das cœur brisé, das gebrochene Herz. Das ist noch mal grooviger als ihr vorheriges Zeugs, was bereits viel Groove hatte. Das Video dazu ist cool mit einer Ästhetik der Filme der 1960er und stellt gleichzeitig eine Hommage an Horrorfilme dar, verbunden mit einem feministischen Text. Aber es ist vor allem der Song, der einem noch lange im Kopf bleibt. T'as peur des filles – hoffentlich nicht?
Zwischen Union und Instagram in Dubai
 
Die letzten Jahre der Stagnation wurden verkörpert und administriert durch die Große Koalition in Deutschland von SPD und Union (CDU/CSU). Damit kann in diesem Jahr gebrochen werden. Es entstehen neue Handlungsoptionen und damit auch Hoffnung auf eine lebenswerte neue Normalität. Im Idealfall wird die selbstgefällige Beklemmung weg sein, die vor allem die Konservativen in Deutschland ausstrahlen (die gerade in einem gigantischen Korruptionsskandal demonstrieren, was für sie regieren bedeutet). Das Bauen einer neuen Normalität können wir als Befreiung wahrnehmen.
 
Alles ist scheiße zurzeit, oder? Aber Deutschlands Influencer zieht es nach Dubai, wie uns Jan Böhmermann in seiner neuen Sendung ZDF Magazin Royale beibringt. Wir haben uns kaputt gelacht bei diesem wirklich bizarren Ausflug, der wohl viel über unseren Zeitgeist sagt (immerhin folgen diesen Influencern Millionen Deutsche). Zu sehen gibt es das hier. Im ZDF Hauptprogramm konzentriert sich Böhmermann zusehends mehr auf seine gelungenen Rechercheformate, wie zum Beispiel dieses wirklich witzige Erklärvideo zu Umsatzsteuerkarussellen. I like, I liiiiike. Beautiful. Übrigens wird genau dieses Thema jetzt erstmals bei Suhrkamp aufgenommen mit Influencern als symptomatische Sozialfiguren unserer Zeit und der “Ideologie der Werbekörper”. Klingt tatsächlich spannend für uns hier mit unserem Newsletter ohne Werbung und den ganzen Quatsch aus dem Internet.

Gegen Ende versuchen wir uns noch mal an ein paar positiven Gedanken zur Normalität.
 
Eigentlich ist Normalität ja etwas sehr Beruhigendes, etwas, worauf man sich besinnen kann, ein Rückzugsort, Kultur in vielerleich Hinsicht. Und dabei haben wir alle ein ganz eigenes Verständnis von Normalität. Kollektiver Individualismus halt. Am Ende sind doch alle gleich. Normalität ist ein Selbstverständnis, ein sehr Subjektives. Was wir als Normal erachten, das ist uns vertraut und daran glauben wir. Es ist unsere Komfortzone und wenn wir gerne an denselben Orten abhängen, dann verbindet uns das. Wir dürfen nur nicht den Fehler machen und Anfangen, unsere Normalität auf andere zu projizieren oder sie als unumstößliche Realität zu betrachten.
 
Bleiben Sie uns gewogen und gesund!
 
Felix & Jan
Musik N°5
Arctic Monkeys - Don’t sit down ‘cause I moved your chair
 
Wir haben heute schon gesehen, dass auch Normalität in Bewegung ist. Wir müssen aufstehen und weitergehen. Die Arctic Monkeys liefern den Soundtrack dazu. Doch was sollen wir tun?

Hier ein paar Tipps: Go into business with a grizzly bear, Bite the lightning and tell me how it tastes, Kung fu fighting on your roller skates oder Fill in a circular hole with a peg that's square
Pathologie der Normalität

Erich Fromm (Lesen Sie unbedingt Haben oder Sein!), Philosoph und Psychoanalytiker der Frankfurter Schule, hat den Begriff Normalität lange erforscht und warnt eindrücklich vor der Ungesundheit unserer Normalität, einer Pathologie der Normalität. Dabei startet Fromm mit dem an der Gesellschaft orientierten Verständnis von seelischer Gesundheit. Er problematisiert, dass seelische Gesundheit die Anpassung des Einzelnen an die Gesellschaft bedeutet. Uns geht es als Gesellschaft gut, wenn wir Menschen auf eine bestimmte Weise funktionieren. Das Problem wird offensichtlich, sobald man nur kurz frage, ob denn auch ein Individuum gesund sei, das sich an eine kranke Gesellschaft anpasse. Leider ist unsere Gesellschaft sicher nicht in besten Zuständen. Wie Fromm's Kollege Theodor Adorno in einer legendären Antwort im SPIEGEL 1969 sagt:
Die Welt ist nicht in Ordnung. Unsere Gesellschaft ist nicht gesund. Die Einbindung des Menschen in soziale Strukturen und die Dienstbarmachung seiner Kräfte für wirtschaftliche und gesellschaftliche Zwecke kann auf Ausbeutung beruhen – mit der Konsequenz, dass das Individuum seinen eigentlichen menschlichen Kräften der Freiheit, der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Zärtlichkeit, der Liebe, der Treue usw. entfremdet wird. Eben diese Ebene bezeichnet Erich Fromm als „Pathologie der Normalität“. Die „menschlichen Möglichkeiten“ drohen gesellschaftlich eliminiert zu werden. Fromm geht davon aus, dass Menschen sich selbst und ihre Lebensweise als "normal" empfinden, obwohl sie im Sinne von Fromms humanistischen Vorstellung nicht als gesund gelten können, vielmehr leiden sie an einem „gesellschaftlich geprägten Defekt“.
Musik N°6
Bilderbuch - Magic Life (Album)
 

Das ist Bilderbuch. Unkorrekt, sexy und besessen von gewagter Collage – in allen Bereichen. Wahrscheinlich kennen die meisten hier diese Band bereits, wir wollten sie aber nochmal, vielleicht auch für unser englischsprachiges Publikum, empfehlen. Sweetlove, Bungalow, Baba und sneakersforfree - die besten Tracks des Albums sollten immer wieder mal wieder entdeckt werden!

Das Spätwerk der Band ist nach wie vor spitzenklasse. Bilderbuch bleibt bemüht, den Pegel zu halten und weiter mit Klischees zu spielen, Genres zu crashen und ihr stetig wachsendes Konzertpublikum zum tanzen zu bringen (okay, vielleicht Ende des Jahres wieder?).

Während sie noch nach den ersten beiden Alben jeweils einen heftigen Richtungswechsel einschlugen, scheint Bilderbuch seit Magic Life rund um den Frontmann Maurice Ernst mittlerweile angekommen zu sein. Lange arbeiteten sie an ihrer Musik und wechselten nach Jahren von konventionell zu spannend. Vom langweiligen Indierock zum verrückten Art-Pop. Weiter versunken in ironischer Selbstherrlichkeit. Das gefällt, da es ansonsten in der deutschsprachigen Musikwelt doch recht asexuell zuging, alles sehr korrekt und an Geschichten im Songtext orientiert.

Textuell spielen Bilderbuch also in einer Region, die von deutschsprachigen Künstlern meist gemieden wird. Mit Sexyness tut der Rest sich schwer, vielleicht erklärt das den Boom von Bands, die mit derlei Verklemmung nicht hadern.

La fin.

Das war unser achter Newsletter, ein extra langer Newsletter. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen. Wir freuen uns über Feedback, etwaiges Weiterempfehlen und auch über neue Abonnements. Tatsächlich wird sonst niemand von diesem Newsletter erfahren, da wir keine Werbung machen. Es bleibt also nur Ihre Empfehlung. Newsletter haben nach wie vor etwas von Spam, Werbung, Nötigung. Leider, denn damit wollen wir nichts zu tun haben. In der ersten Ausgabe haben wir geschrieben, warum wir an die Email glauben. Die Email zum lettre heißt: newsletter@kollektivindividualismus.de. Antworten und Feedback gerne an uns! Und im Internet kann man stets unsere Website besuchen, abhängen und staunen. Oh, und ein Archiv mit allen bisherigen Newslettern haben wir auch.
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