Netflix and Chill- oder: ein Recht auf alternative Wahrheit?
Eine Selbstdiagnose

 

Vor einiger Zeit erschien bei Kollektiv Individualismus ein Beitrag über die „Notwendigkeit einer positiven Utopie“. Die Aussage ist deutlich: Sie fehlen uns – politische Utopien. Die Politik braucht Träume, die uns bewegen und wir versuchen sie wahr werden zu lassen. Sofort konnte ich hier zustimmen, mich mit den Argumenten des Autors mit unserer gegenwärtigen Gesellschaft identifizieren.

Dennoch beendete ich die Lektüre mit einem unbefriedigenden Gefühl im Bauch. Mir war plötzlich sehr klar, dass ich soeben gelesen hatte, was mir schon seit Langem bewusst war: die Zeit der großen (wirklich großen, ganzheitlichen) Utopie-Ideen scheint mir vorbei. Auch in politisch interessierten Kreisen stagniert die Diskussion. Oft beobachte ich, wie sich der Dialog lange darum dreht, sich gegenseitig in der Anerkennung dessen zuzustimmen, dass Missstände herrschen. Von Kinderarbeit über die Ausbeutung der Umwelt bis hin zu aufkeimenden offen rechten Strömungen konstatieren wir mit gerunzelter Stirn Unzufriedenheit. Wir Pflichten einander bei, es müsse sich etwas ändern, die Situation sei unglaublich, die Politik sei unfähig zu handeln. Häufig verbleibt es hierbei. Wir selbst sind unfähig über die Diagnose hinaus aktiv zu werden. Kommt es tatsächlich dazu, sich mit etwaigen Lösungen auseinander zu setzen, dreht es sich um einzelne, isoliert betrachtete Probleme. Es ist bequem, hier eine konkrete, pragmatische und kompromissfähige Lösung zu produzieren, auf deren moralische Richtigkeit man sich auf ein Neues zuprosten kann.

Was ausbleibt, ist die Betrachtung des großen Ganzen: wenn der Staat dieses und jenes fördern soll, muss er an anderer Stelle sparen- wo denn? Oder wollen wir alle mehr Steuern zahlen? Genau, wie ist das eigentlich- wie stehen wir zu Steuerabgaben und eigenen Opfern zur Erreichung des Ziels?

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Bei der Diskussion von Problemstellungen wird das Meinungsspektrum oft erst divers, wenn das Problem in einem ganzheitlichen Kontext betrachtet wird. Hier geschieht das, was wir brauchen: die Bildung von Utopie- Vorstellungen. Denn gerade gesellschaftliche Utopien bauen auf Idealen auf, mit gerade so viel Realismus gemischt, dass aufgrund von begrenzten Ressourcen Prioritäten gesetzt werden müssen. Dem Einen geht es mehr um soziale Gerechtigkeit, der Andere möchte zuerst die Umwelt schützen, ein Dritter fürchtet um seinen Arbeitsplatz und wieder Andere machen für Vieles Ausländer verantwortlich und wollen hier zuerst ansetzen.

Diesen Schritt der ganzheitlichen Betrachtung, eines gesamtgesellschaftlichen Weitblicks, lassen wir regelmäßig fahrlässig aus. Schlägt jemand das Ideal einer „Welt ohne Geld“ vor, lächelt man spöttisch- einschließlich dem Vorschlagenden selbst.

Der Grund? In pessimistischen Momenten tippe ich auf Bequemlichkeit, in Positiveren auf Überforderung, in verschiedenen Personenkonstellationen auf fehlplatzierte Höflichkeit. Motive bei Seite, das schlagende Argument ist, dass es schlichtweg einfacher ist. Es ist einfacher, sich nur mit einem Problem auf einmal zu beschäftigen, einfacher, sich regelmäßig anerkennend zustimmen zu können und bei sich zu denken, wie gerecht denkend unsere Gesellschaft doch im Grunde ist.

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Wurde unsere Generation noch vor wenigen Jahren als apolitisch beschrieben, kommen wir alle um die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit grundlegenden politischen Fragen heute nicht mehr herum. Durch Trump, Brexit, Flüchtlingskrisen sind wir alle wieder spürbar unmittelbar betroffen. Umso seltsamer ist die Beobachtung, auf welch vereinfachendem und distanziertem Niveau sich die Auseinandersetzung weiterhin befindet.

Alles wird angesprochen, diskutiert, es wird sich auf einen zustimmungswürdigen Konsens geeinigt, und Alles wird ante acta gelegt. Anschließend: Netflix and Chill. Diskussionen über neue Klamotten und Bekannte aus der Uni. Social Media Oberflächlichkeit. Anders gesagt: wir gönnen uns den totalen Rückzug aus der Realität und kapseln uns ab. Wir bilden uns eine höchstpersönliche Blase der „alternativen Realität“, in der Politdramen nur die Erfindung von „House of Cards“ oder „Homeland“ sind, und humanitäre Katastrophen uns nur dumpf durch den Filter sozialer Medien erreichen: Mitleidbekundung und klick, weg ist das Problem. Wir geben uns der Illusion hin, all das sei nicht ganz so nah, nicht ganz so aktuell, nicht ganz so dringlich, um sich damit weiter auseinander setzen zu müssen. Und erlauben uns einen Aberglauben daran, dass wirklich einschneidende Ereignisse schon nicht passieren werden, weil genügend Vernunftbegabte darauf aufpassen werden, den friedlichen und freiheitlich- demokratischen status quo in Europa aufrecht zu erhalten. Die Lizensierung hierzu erteilen wir uns automatisch- denn wir glauben, die Probleme der Welt ausreichend behandelt, eine Antwort auf jedes Problem zu haben und außerdem überaus politisch engagiert zu sein.

Aber wer bleibt übrig, wenn die Vernunftbegabten sich auf temporäre, punktuelle Interessensbekundungen beschränken, um sich anschließend zur Entspannung in einen Orbit zurückzuziehen, der sich losgelöst von politischen Fragen bewegt?

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Ich komme zu dem Schluss, dass das Vorhandene nicht genug ist. Es reicht nicht, einzelne Fragestellungen exponiert zu betrachten. Es reicht nicht, sich der Missstände in der Welt bewusst zu sein, Trump und Petry blöd zu finden, und zu verlangen, jemand gebe uns doch bitte endlich eine neue Utopie, nach der wir streben können. Ein Recht darauf, sich zurückzuziehen, können wir uns nicht leisten: hierfür sind wir schon längst zu persönlich betroffen vom Weltgeschehen. Politische Passivität ist ein Luxus, den wir uns 2017 nicht mehr leisten können.

Die Utopie muss von uns selbst kommen. Das geschieht nur durch den Blick auf die Zusammenhänge, durch die Hinterfragung von Prioritäten und Auswirkungen von Einzelentscheidungen. Wir müssen, auch wenn es uns unbequemer als Netflix and Chill erscheint, erkennen, abwägen und vor allem klar Stellung beziehen.

1 Kommentar

  1. Jan

    Die Frage: Was ist uns das Erreichen unserer Ziele Wert? wird viel zu selten gestellt, geschweige denn sinnvoll abgewägt. Wir schmücken uns mit hohen ethischen und moralischen Grundsätzen aber verweigern vermehrt uns bewusst werden zu lassen, welche Konsequenzen, welche Opfer diese fordern: wir fordern Chancengleichheit, ignorieren aber den Verfall der Leistungsgesellschaft. Wir schrecken zurück vor Umverteilungsmaßnahmen aber erheben eine egalitäre Gesellschaft zu unserer Maxime.

    Ich denke, dass diese Passivität vor allem daraus resultiert, dass wir bei vielem nicht mehr bereit sind den Preis zu zahlen, den unsere „Werte“ verlangen.

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Autorin

Sophie

Lektorat | Bonn