Über die Notwendigkeit einer positiven Utopie

Es ist unübersehbar, dass unsere Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form vor einem recht umfangreichen Umbruch steht. Wir erleben eine große Zahl von Wandlungsprozessen und erstaunliche gesellschaftliche Dynamiken (Man denke an die zunehmende Ungleichheit oder an die massenhafte Digitalisierung jedes Lebensaspektes, nur um einige Beispiele zu nennen). Dieser Wandel geht nicht geräuschlos einher. Im Gegenteil: Viele bleiben auf der Strecke, haben das Gefühl, ihre Bedürfnisse nicht mehr bedienen zu können, fühlen sich im Stich gelassen oder stellenweise verraten. So legt zum Beispiel der französische Autor und Soziologe Didier Eribon in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ sehr lebhaft dar, dass sich große Teiler (linker) Wählerschaften von ihren Parteien alleine gelassen fühlen und ihnen nicht mehr zutrauen, die Gesellschaft nach ihren Bedürfnissen zu gestalten. Diese Analyse lässt sich zweifelslos auf viele weitere „westliche“ Gesellschaften übertragen. Es scheint, als sei es keiner gesellschaftlichen Institution – also in erster Linie keiner Partei – gelungen, der Gesellschaft dieses Unbehagen vor dem Wandel und diese Angst vor der Zukunft zu nehmen.  Es scheint mir, als wären sie nicht in der Lage, ein begehrenswertes Bild einer zukünftigen Gesellschaft zu zeichnen.

Es mangelt also an Visionen in der gegenwärtigen (linken) Politik. Es fehlt eine Vorstellung davon, wie eine zukünftige Gesellschaft aussehen könnte: keine Partei präsentiert eine positive, humanistische Utopie. Ein Set an guten Zukunftsbildern, das hilft Visionen zu skizzieren, Maximen zu definieren und diese ein Stück weit Realität werden lässt.

Stattdessen übernimmt eine Politik des sturen Reagierens. Dynamiklose Realpolitik als Antwort auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse und Schieflagen. Wenn schon die Politik die Zukunft verdrängt, wie soll dann der Rest der Gesellschaft der Zukunft entgegentreten? Der Mangel an Zuversicht resultiert im Rückzug: jenseits von Zeitgemäßheit werden alte Werte erneut beschworen. Erzkonservative, zukunftsverneinende Parteien werden zum immer mehr akzeptiertem Refugium und die Gestaltung einer neuen, zeitgemäßen Gesellschaft rückt in immer weitere Ferne.

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Stellen wir uns einen Computerhersteller vor, dessen neue Geräte sich aufgrund verschlafener technischer Neuerungen nur noch schlecht verkaufen. Als Reaktion auf sein schlechtes Geschäft wird dieser mit Sicherheit nicht die Produktion von Schreibmaschinen wieder in Gang werfen, nur weil sich diese vor ein paar Jahrzehnten mal gut verkauft haben.

Die einzig sinnvolle Reaktion ist natürlich der Blick nach vorne. Der Hersteller wird sich Gedanken über zukünftige Technologien und Bedürfnisse machen, um zu versuchen, bestmöglich auf den Wandel zu reagieren. Seine positive Utopie wird er in Form von futuristischen Konzepten vorstellen, er wird diese als Aushängeschild für sein Unternehmen verwenden und als Symbol für avantgardistisches Denken benutzen.

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Gesellschaftliche Institutionen müssen eine Konzeptgesellschaft entwerfen. Sie brauchen ein Aushängeschild mit dem sie zeigen können, dass sie mit ihrer Idee zukünftigen Anforderungen gewachsen sind. Sie brauchen diese Utopie als Symbol, welches der Gesellschaft Teile ihrer Unsicherheit nehmen kann und es ihr ermöglicht, zukünftigen Veränderungen mit Neugier und Gestaltungsdrang entgegenzutreten. Die gegenwärtigen Dynamiken erfordern Kreativität und avantgardistisches Denken! Wir müssen uns die Fragen stellen: Wie kann diese neue Gesellschaft aussehen? Nach welcher Utopie wollen wir streben?

Dass diese nicht als exakte Blaupause für konkrete zukünftige Entwicklungen herhalten kann, impliziert bereits die Definition der Utopie. Sich der Zukunft nicht zu stellen und sie zu ignorieren ist jedoch in erster Linie feige. Eine Utopie ist eine erste Annäherung an die Herausforderungen der Zukunft. Man beschäftigt sich mit ihr. Das ist schon mal erstrebenswert und gut. Die viel größere Frage aber folgt erst darauf: was ist konkret zu tun um dieses Ziel zu erreichen? Diese Frage ist jedoch ohne eigene Vorstellung der zukünftigen Maxime und ganz ohne Utopie nicht zu beantworten.

 


Angelehnt an Gedanken von Richard David Precht und seinem Interview mit Tilo Jung.

8 Kommentare

  1. Moritz

    Jedes Mal, wenn positive Utopien gefordert werden, bin ich misstrauisch. Dass es eine Bewegung von links geben muss, dem stimme ich zu. Aber in der Forderung nach einem Leitbild steckt immer auch die Tendenz zu übergehen, weshalb ein solches überhaupt notwendig geworden ist. Man müsste so zu sagen aus dem misslungenen Zustand ein Negativ, ein „so nicht“, herauslesen, ohne dieses selbst zu einem Positiven zu erheben. Meinem Gefühl nach ist letzteres passiert, als in der Vergangenheit aus der Abscheu gegenüber Rassismus und Diskriminierung mit einmal ein Positiv von radikaler Pluralität und „political correctness“ wurde. – Kontinuierliche Selbstkritik erspart vielleicht die gesetzte Utopie.

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    • Jan

      Ich stimme dir zu, dass kontinuierliche Selbstkritik wichtig und richtig ist, doch erstpart sie meiner Meinung nach die Utopie nicht. Eine Utopie soll doch weniger aus dem gescheiterten Gegenwärtigen entstehen, sonder eher aus dem zukünftlich Wünschenswerten. Der „misslunge Zustand“ muss natürlich selbstkritisch analysiert und auf ihr reagiert werden aber die Utopie formt sich ja erst aus dem, wonach wir in Zukunft streben wollen und kann soimt auch lösgelöst vom Gegenwärtigen sein.

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      • Jonas

        „Eine Utopie soll doch weniger aus dem gescheiterten Gegenwärtigen entstehen, sonder eher aus dem zukünftlich Wünschenswerten.“
        Gehen denn das gescheiterte Gegenwärtige und das zukünftig Wünschenswerte nicht Hand in Hand? Ich denke, dass gerade aus dem Gescheiterten (oder dem aktuell Problematischen) das für uns Wünschenswerte erkennbar wird. Würde ich soziale Gleichheit für meine Utopie als einen der wichtigsten Aspekte sehen, wenn ich jetzt nicht von großen Ungleichheiten mitbekommen würde? Warum sollte ich mir einen größeren Anteil erneuerbarer Energien wünschen, wenn ich nie etwas über die Nachteile fossiler Brennstoffe erfahren hätte? Natürlich soll dabei nicht weiter die „Politik des sturen Reagierens“ vorrangetrieben werden, aber die aktuellen Problematiken sind meines Erachtens unerlässlich für die Skizzierung einer Utopie.

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  2. Klaus Nitschke

    für mich sind es klar unsere Werte entlang des Grundgesetzes: die sind formuliert und haben sich seit 1947 bewährt…unsere Grundrechte sind z.B:.

    Artikel 1 GG
    (1) DieWürde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
    (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten
    als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
    (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
    und folgende…..


    ….wenn man entlang der Grundgesetzartikel formuliert wie wir in Zeiten technologischer Innovationen wie AI, VR, autonomous driving, erneuerbarer Energien mit dezentraler Erzeugung und Verteilung (Grid), kollaborativer Mitbestimmung (um nur einige zu nennen) leben wollen, verschiedene Konzepte vorschlägt, darüber im Volk auf breiter Basis und verständlich diskutiert und mehrheitlich abstimmen lässt (entweder im Parlament oder durch Volksbefragung (von der ich in der Regel nicht so viel halte), dann kommt man (hoffe ich :-)) zum grossen „Narrativ“.

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    • Jan

      Danke für den Reminder! Ich habe nur leider das Gefühl, dass diese eben nicht mehr die Grundlage vieler Diskussionen bilden.

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  3. Klaus

    …finde die Diskussion gut.

    Eine Gesellschaftsvision sollte sich aus meiner Sicht an den Werten der westlichen Gesellschaft sowie am Grundgesetz orientieren und messen lassen. Die Werte geben einen hervorragenden Rahmen für die Formulierung einer zukünftigen Gesellschaft, in der wir leben wollen.

    Eine denkbare Vorstellung einer Zukunft kann sein, das Krankheiten geheilt und Chancen gerecht verteilt werden, menschliche Potentiale vorangetrieben und Gleichheit gefördert wird…und das alles im Einklang mit im Grundgesetz verankerten Werten.

    ….für den grossen Entwurf einer zukünftigen Gesellschaft braucht es konkrete Vorschläge/Optionen und eine gesellschaftliche offene und transparente Debatte darüber wie wir alle leben wollen.

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    • Felix

      Nur was bedeuten eigentlich Werte der westlichen Gesellschaft? Assoziation? Abhängig vom Befragten. Trennscharf sind diese jedenfalls nicht zu formulieren und der Gegenwind ist bereits recht kräftig: Folter im Auftrag der Antiterrorbekämpfung, Misshandlung, völkerrechtswidrige Exekutionen mit surrenden unbemannten Flugobjekten, absurde Konsumorientation der westlichen Bevölkerung, um nur einiges zu nennen, was im Raum schwebt.

      Ohne Zweifel: Werte müssen das Fundament einer gesellschaftlichen Utopie bilden. Doch welche? Wir meiden diese Diskussionen, weil sie unbequem sind und es in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit keinen Raum gibt für Debatten, wo es um Inhalte geht. Darum erleben wir in den letzten Jahren (Dekaden darf ich wohl aufgrund meines Alters nicht schreiben) einen kontinuierlichen Rückzug der Moral aus der gesellschaftlichen Debatte. Stattdessen übernimmt eine ausschweifende Marktlogik, Bereiche, von denen intelligente Menschen zu Recht behaupten, dass sie dort nicht hingehören. Dinge, die Geld eigentlich nicht kaufen kann oder nicht sollte, wenn es könnte. Beispiel Pflege, Privatisierung von Armeen und Sicherheitsdienstleistungen, etc. Eindrücklich illustriert das beispielsweise der Harvard Professor Sandel.

      Was helfen würde: Über grundsätzliche, vermeintlich einfache Fragen debattieren. In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Welches Verständnis von Sozialer Gerechtigkeit wollen wir mehrheitlich teilen und politisch umsetzen (vielleicht hat Herr Schulz ja eine konkrete Idee?)? Um ein Beispiel zu geben: Seit der verheerenden Finanzkrise 2008 und dem Bestseller vom französischen Ökonom Piketty wird wieder europaweit und vor allem in Deutschland über Soziale (ökonomische) Ungleichheit gestritten. Ungleichheit in Vermögen und Einkommen nehmen seit den siebziger Jahren wieder zu. Die Empirie bestätigt das auf den ersten Blick, aber ohne eine klare Zielvorstellung (und ich denke, darauf will der Autor hinaus), braucht man gar nicht erst weiter mit den Daten zu arbeiten und wirtschaftspolitische Maßnahmen diskutieren. Wie viel Ungleichheit ist gut für unsere Gesellschaft? Schritt 2 wird dabei gerne übersprungen, das Ergebnis kennen wir.

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      • TK

        Vorerst muss ich mahnen: der Begriff „westliche Werte“ darf nicht eng an die politischen Geschehnisse angeknüpft werden. Es ist fatal, fälschlicherweise davon auszugehen, dass sich „westliche Werte“ von (aktuell) politischen Ereignisse ableiten lassen; Stichwort ‚Folter im Auftrag Anti-Terror Bekämpfung.‘ Vielmehr sind westliche Werte gerade das Fundament, welches die geografisch westliche Welt Jahrhunderte lang zusammen gehalten hat. Beispiel: Freiheit, Toleranz.
        Auch bin ich von der Präsenz der Moral in der aktuellen, tagespolitischen Debatte mehr als überzeugt. Gerade die Flüchtlingskrise und das Einreise-Diskret von Präsident Trump haben doch die Moral wieder auf die Tagesordnung der Politik gesetzt, die sonst – da gebe ich dem Autor recht – in den letzten Jahren zu Kommerzialisiert wurde.

        Außerdem noch ein Gedankenanstoß: 
„Gesellschaftliche Institutionen müssen eine Konzeptgesellschaft entwerfen. Sie brauchen ein Aushängeschild mit dem sie zeigen können, dass sie mit ihrer Idee zukünftigen Anforderungen gewachsen sind“ – ist diese „Konzeptgesellschaft“ nicht ein Teil der Kritik? Ist es nicht gerade dieses „Konzept“, nachdem wir momentan leben, und an das wir uns gezwungen fühlen anzupassen? Ich bin überzeugt: Die momentane Konzeptgesellschaft ist insbesondere das Problem. Das Problem warum viele überhaupt erst das Gefühl haben, ihre Bedürfnisse nicht mehr bedienen zu können. So sagt selbst der Autor: „Viele bleiben auf der Strecke, haben das Gefühl, ihre Bedürfnisse nicht mehr bedienen zu können, fühlen sich im Stich gelassen oder stellenweise verraten.“
        Ich schlage vor: Weniger Konzept, mehr Individualität. Weniger generelle Debatten, mehr individueller Diskurs und Engagement.

        PS: Utopien sind immer positiv 😉

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