Grimassen: Behagliche Lügen

Grimassen: Behagliche Lügen

Behagliche Lügen

Wir sind es seit Längerem gewohnt, belogen zu werden: die Politik holt bloß auf. Werbung ist vielleicht das offensichtlichste Beispiel. Wer glaubt heute noch einem Versprechen der Marketing-Abteilung? Die scheint das auch schon mitbekommen zu haben. Die Werbung koppelt sich immer weiter ab vom Produkt, welches sie eigentlich bewirbt, wird diesem gegenüber immer gleichgültiger. Viele Werbespots für Autos ähneln mehr Kurzfilmen, in welchen das beworbene Modell eine prominente Rolle spielt, als dass sie die Vorzüge und Nachteile der Ware anpreisen würden. Vermutlich ist das auch nur fair. Die Unterschiede zwischen mehr oder minder substituierbaren Gütern sind meist marginal, da ist die Werbung einfach ehrlich.

Man gewöhnt sich daran, Sachen ernst zu nehmen, weil sie einem zu diesem Zweck gegeben werden. Manchmal frage ich mich, ob ich einem Menschen, der sich verhielte wie ein guter Schauspieler, sein Benehmen abkaufen würde. Würde Jack Nicholson mir in einer seiner Rollen im Alltag begegnen, ich wäre irritiert. Es gibt in der Unterhaltungsindustrie ein Repertoire an Handlungen, ein Repertoire an Motiven, welche uns im Alltäglichen überhaupt nicht begegnen. Dennoch tauchen sie in Film oder Literatur immer wieder auf, und irritieren nicht. Wir sind so sehr daran gewöhnt dieses Repertoire an menschlichen Handlungen gespielt zu sehen, dass wir sie als Menschlichkeit ernst nehmen. Die Lüge, die dabei von der Unterhaltungsindustrie aufgetischt wird, erfüllt jedoch ihren Zweck: sie unterhält, lenkt ab, tröstet. Und an diesem Zweck ist nichts Verwerfliches.

Für die Öffentlichkeit und Politik ist ein anderer Maßstab anzulegen, sicher. Aber auch der Politiker spielt nur eine Rolle. Politik ist ein Beruf, und ein solcher ist nicht einfach mit der Person gleichzusetzen. Nach dem Mord an Martin Schleyer weinte Helmut Schmidt nicht, als er der Witwe sein Beileid bekundete. Das stieß auf Kritik: ob er dem Volk ehrlich weinend denn nicht persönlicher, menschlicher vorkäme? Schmidt sah das ein und widersprach: »Ich glaube Ihnen das. Auf der anderen Seite ist meine Hauptaufgabe nicht, Ihnen vertraut vorzukommen.«

Grimassen

die Kolumne von

Moritz

Autor| Freiburg

Facebook

Facebook

Hype Maschine

Spotify

Instagram

Die Illusion einer heilen Welt

Die Illusion einer heilen Welt

<iframe width="100%" height="160" scrolling="no" frameborder="no" src="https://w.soundcloud.com/player/?url=https%3A//api.soundcloud.com/tracks/242734292&color=64c08f&auto_play=false&hide_related=false&show_comments=true&show_user=true&show_reposts=false">
<iframe src="https://embed.spotify.com/?uri=spotify%3Atrack%3A4ef1w42eKAxP1yRltngiOX" width="300" height="380" frameborder="0" allowtransparency="true"></iframe>
Die Illusion einer heilen Welt
mit Kate Tempest

Sophie Hunger sagt: „Kate Tempest ist eine Mischung aus einer epischen Hohepriesterin und einem rappenden Robin Hood. Sie hat eine Kirche errichtet ohne Gebote, deren Heiliger Geist die Sprache ist. Ihr Name ist ein Beat, ihre Mission ist Liebe, ihre Schüsse treffen alles.“.

Ein Übersetzungsversuch.

Es ist 2016. Europa hat verloren. Amerika hat versagt. London ist verloren. Wir sind Loser, aber wir fordern immer noch Siege. All das sind bedeutungslose Regeln und wir haben nichts von der Geschichte gelernt.

Wir Menschen leben als Untote. Bereits während seiner Lebenszeit stirbt man früher oder später. Benebelt vom Glanz der Straßen. Aber hey, schau, der Verkehr hört nicht auf zu fließen. Ein endloser Strom. Das System ist zu glitschig, um aufzuhören zu funktionieren. Es flutscht einfach zu gut. Das Geschäft läuft und abends spielen Bands in den Bars. Wir können uns ablenken von der Grausamkeit die unser Leben als Produkt ausscheidet. Außerdem gibt’s wieder two for one in den Clubs. Sinnlos scheint das Betrinken. Wir benebeln uns. Putzen uns raus. Lenken uns ab.

Wir haben ordentlich geschrubbt. Arbeit und Stress weggewaschen. Jetzt wollen wir alle etwas Exzess. Besser noch: eine night to remember, it’s gonna be legendary, die bald schon vergessen sein wird. Versunken in der Belanglosigkeit.

All das Blut, dass vergossen wurde für das Wachstum dieser Städte, die Körper die fielen, die Wurzeln, die wir ausgruben. So war das alles möglich. Ich sehe sie heute Nacht; meine beschmutzten Hände.

Verzweifelt. Hilferufe kann ich nicht beantworten, niemand kennt mich. Wir sind alle gleich langweilig. Arbeiten und arbeiten, so, dass wir alles sein können, was wir wollen. Nichts ist unmöglich. Dann tanzen wir die Strapazen ab. Doch selbst die Drogen sind langweilig geworden. Sex ist noch gut, wenn du ihn dann hast.

Ein dauernder Schlaf ist das, wie in Hypnose. Bitte nicht ängstlich sein. Nicht nachfragen. Selbst denken? Nein, einfach weitermachen. Doch wie wache ich dann irgendwann auf?

Ich fühle den Anflug von Aufstand. Doch die Aufstände sind klein und die Systeme sind gigantisch. Der Verkehr fließt weiter und beweist, es gibt hier nichts zu sehen/ändern.

Sorg dich nicht um institutionelle Gewalt, strukturierte Boshaftigkeit, privatisierte Absurdität, grenzenlose Märkte, die Moral ersetzen, medizinische Beruhigungsmittel für Kinder. Sorg dich um die Terroristen. Das ist gefährlich.

Die Meerespegel steigen, die Tiere, Eisbären, Elefanten sind am Aussterben. Hör auf zu schreien. Fang an zu kaufen. Massaker. Massaker, neue Schuhe. So nehmen wir Gewalt wahr.

Live Porno für deine Prä-adoleszenten Teens. Gläserne Wände, keine Kopffreiheit. Wir haben nichts zu verstecken, weil wir nichts zu sagen haben. Oh aber die Happy Hour auf der Highstreet.

[…]

Kate Tempest heißt eigentlich Kate Calvert und ist 30 Jahre alt. Als Lyrikerin, Musikerin und Schriftstellerin ist sie eine der Stimmen ihrer Generation. Ihr musikalisches Debüt gab sie mit ihrem Album Everybody Down, ihr literearisches mit dem im letzten Sommer veröffentlichten Roman Worauf du dich verlassen kannst.  Im Oktober letzten Jahres erschien ihr Hip-Hop-Album Let Them Eat Chaos.

Das ist nicht einfach gewesen. Ständig hämmert mir der metallene Beat im Ohr. Er lässt an rauchende Schornsteine und ununterbrochene Fließbandarbeit denken. Kate Tempest erhellt, macht ratlos und berauscht. Ich sehe Szenen aus dem Video von Europe Is Lost vor mir. Eine gnadenlose Analyse unserer westlichen Gesellschaften, die wohlstandsverwahrlosen und in Konsum verloren gehen. Es bedarf kein Abspielen der CD oder Aufrufen von YouTube. Der Text fasziniert sofort. Er überzeugt von dem Wahrheitsgehalt der Dichtkunst. Überwältigt mit der Intensität von Text, musikalischer Penetration und den Videobildern, die allesamt echte Aufnahmen sind. Sozusagen das Worst Of.

Esther ist Krankenpflegerin, kommt gerade von der Nachtschicht und arbeitet in einem atemlosen Stream of Consciousness die desolate Lage des Landes durch. Es ist 4.18 Uhr in einer Straße ohne Namen irgendwo in London, und sieben Bewohner dieser Straße können nicht schlafen. Sie heißen Gemma, Esther, Alicia, Pete, Bradley, Zoe und Pious, sie sind Pflegerinnen, Arbeitslose, Agentur-Heinis, und sie werden wachgehalten von Angst, Alkohol, Überarbeitung. Es geht von London aus schnell und straight on zu den existenziellen Fragen.

Es geht um Nationalismus, die Angst vor Terror, den immer größer werdenden Einfluss von Rechtspopulisten in Europa und die soziale Vereinsamung trotz Facebook und Tinder, die uns Sozialität nur vorgaukeln: Tempest raubt uns Wohlstandsbürgern die Illusion einer heilen Welt.

 

(Auftakt einer kleinen Serie zu Kate Tempest Musik.)

 

Autor

Felix

Gründer | Bayreuth

Facebook

Facebook

Hype Maschine

Spotify

Instagram

Je schlimmer, desto besser – über Nahost

Je schlimmer, desto besser – über Nahost

Je schlimmer, desto besser – über Nahost

Beobachtungen

 

Es gibt einen Konflikt, der existiert gar nicht mehr – für uns. Würde nicht der lächerliche Präsident der Vereinigten Staaten dafür Sorge getragen haben, dass wir zumindest einen Augenblick wieder auf einen Teufelskreis der Gewalt blicken.

Israelis und Palästinenser sind nach wie vor gefangen in einer Krise, die zermürbt und die stets mit Emotionen befeuert wird. Es gab eine Zeit, da hat der Konflikt das Interesse an Nahost dominiert. Heute findet der Streit zwischen Israelis und Palästinensern nicht mehr im Zentrum statt, sondern wird in der Peripherie ausgetragen. Im Zentrum tobt mittlerweile selbst nicht mehr Syrien, sondern der Terror, der es nach Europa schafft. Dass man dort zur Angelegenheit der Peripherie geworden ist, möchte nur keine der beiden Seiten zugeben. Beide Seiten wetteifern seit Jahrzehnten bereits, wer wohl am meisten gelitten hat und verlieren dabei das Leid des jeweils anderen gänzlich aus dem Auge. Es wird nach Schuld und Unschuld, dem größeren Schurken, dem größten Leid gesucht und Gerechtigkeit gefordert. Ob die Organisationen vor Ort noch an Frieden interessiert sind? Die Menschen, ja! Aber die profitierenden Organisationen, eine rechten Politikerkaste in Israel und mindestens eine radikal islamistische Terrororganisation in Palästina, man mag es bezweifeln.

Es scheint so, als würden beide Konfliktparteien mit ihrer sturen Aussichtslosigkeit ihre jeweils loyalen Partner (in West wie Ost) zermürben und anöden. Im Westen wird man von der imperialistischen, unnachgiebigen Arroganz eines Militärstaates abgestoßen und in der arabischen Welt macht sich Enttäuschung über die gespaltenen und radikalen Palästinenser breit.

Auf beiden Seiten fragen sich Partner wie die USA, Deutschland, Iran und Syrien, wie ein Konflikt, der so endlos wie fruchtlos ist, derartig raumgreifend im Nahen Osten ausgebreitet werden kann. Er wird mehr emotional denn politisch rational befeuert. Emotional befeuert soll heißen, dass auf beiden Seiten ein begrenzter Konflikt mit relativ wenig Blutvergießen symbolisch zu einem Ereignis aufgeblasen wird, das mit dem vergleichbar sein soll, was im Kongo, im Irak, in Nigeria geschieht und geschehen ist.

Drumherum geht es um mehr, könnte man meinen. Da sollten die beiden Streithähne doch mal halblang machen. Wenn Afghanistan, der Irak, Syrien und Jemen implodieren, der Terrorismus weiter zunimmt, Umweltzerstörung um sich greift, Millionen Heimatlose zu überleben versuchen und zu allem Übel auch noch neue Akteure aus der Asche der verbrannten Erde aufsteigen und Grenzen übergreifend die Region destabilisieren, wie zum Beispiel der IS.

*

Israels Opferstatus ist als Besatzungsmacht schwierig aufrecht zu erhalten, angesichts der martialischen Militärmaschine, den endlos expandierenden Siedlungen und seiner hochentwickelten Wirtschaft. Nach dem zweiten Weltkrieg und der Shoa hatte Israel diesbezüglich vielleicht ein unangefochtenes moralisches Privileg gegenüber dem Westen inne. Das schwindet nun mit dem Zuwachs an neuen Gräueltaten weltweit, die ebenfalls Maßstäbe der Brutalität setzen.

Nach dem Verständnis der Zionisten war das jüdische Volk nie auf die geographischen Grenzen seines damals neuen Staates begrenzt und so wurde Expansion als moralisch legitimer Bedarf nach Lebensraum erklärt. Ist er das?

Aber auch arabische Vertreter beeilen sich, durch polemische Übertreibung vergangene Ungerechtigkeiten zu kultivieren und bemühen sich um den Opferstatus ihrer Klienten. Bitter ironisch, dass die Araber über den Nahen Osten hinaus heute den Platz der Juden als Ausgestoßene eingenommen haben? Araber leben heute in elenden Ghettos, sind Angriffen der Medien und kultureller Erniedrigung ausgesetzt, müssen sich rechtfertigen für ihren Glauben, den Islam. Sie werden mit Schurkenstaaten und Terror assoziiert.

Selbstverständlich und bedauernswerterweise gibt es auch noch Antisemitismus. Er beruht wohl auf denselben Mythen und Irrationalitäten wie in vergangenen Zeiten. Dagegen steht aber heute die imperialistische Politik eines machtvollen Staates mit ihren antiarabischen Vorurteilen. Unhaltbarer Antisemitismus wird so des Leichteren mal mit legitimer Kritik an der Politik Israels vermischt. Von dieser Mixtur profitiert Israel mehr als die Palästinenser. Sie rechtfertigt scheinbar das Bedürfnis nach territorialer Expansion.

Zionistische und islamische Extremisten teilen den selben Wunsch, den Teufelskreis der Gewalt am Laufen zu halten und Aussichten auf Verhandlungen zu sabotieren. Beide haben verstanden, dass ihre Macht so weit schrumpfen wird, wie die Möglichkeiten, den Konflikt zu lösen, zunehmen. Typisch Extremismus, basiert ihre Politik auf je schlimmer, desto besser. Letztlich haben sie beide mehr die Organisation, also ihre mögliche Ein-, Zwei- Dreistaatenlösung, als die Bürger als Menschen im Blick.

*

Bedauernswerterweise klingt das jetzt zum Schluss sehr banal: Die einzige Lösung kann ein nüchternes Nachdenken über politische Alternativen, eine freie Kritik an allen ideologischen Parolen und der Verzicht auf rein emotionale Investitionen sein. Aber das passiert leider nicht.

 

 

P.S. Wen das Thema interssiert, dem sei als Folge- oder Grundlagenliteratur das bald erscheinende Heft „Edition LE MONDE diplomatique No.21 ‚Israel und Palästina. Umkämpft, besetzt, verklärt‘ 112 farbige Seiten, broschiert. Erscheinungsdatum: 11.04.2017“ empfohlen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Autor

Felix

Gründer | Bayreuth