Roger Willemsen
Wer wir waren. Zukunftsrede

In der im Vorjahr seines Todes gehaltenen Zukunftsrede versuchte Roger Willemsen etwas schwer Glaubliches: das bis dahin bloß fragmentarisch existierende Buch Wer wir waren in eine provisorische Form zu gießen, um den unreifen Gedanken vor dem Missverständnis zu schützen. Das ist gütlich gegenüber denen, die sonst nicht wohin gewusst hätten, mit seinem diversen Lebenswerk.

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Diese nun publizierte Rede hält alles meist skizzenhaft. Dabei ist das Motivische deutlicher konturiert, als die bloß schraffierten theoretischen Reflexionen. Man muss den Text mehrmals lesen, um diese in Sätzen zu finden, die mehr nach gerafftem Exposé, als nach sicherem Standpunkt klingen. – „Nachzeitig werde ich schauen, aus der Perspektive dessen, der sich seiner Zukunft berauben will, weil sie ihn schauert, im Vorauslaufen zurückblickend, um sich so besser erkennen zu können, und zwar in den Blicken derer, die man enttäuscht haben wird.“¹ Für das Erkannte ist das Jetzt der Erkennbarkeit immer ein Aposteriorisches. Selbsterkenntnis ist das verfrühte Einnehmen eines Standpunktes, der nur als Potenz im Jetzt enthalten ist. Roger Willemsen gelingt es nicht, dieses methodologische Versprechen einzulösen; sein Standpunkt bleibt ein bloß grammatikalisches Futur II, seine wichtigsten Gedanken bleiben im Konjunktiv stehen. Vor der Praxis, zu der aufgerufen wird, schützt das Fragmentarische des Gedankengangs aber nicht: „Als brauchten wir zum Handeln einen neuen Klimabericht, einen neuen Schadensbericht über die Weltmeere, den Regenwald, die grassierende Armut.“²

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Willemsen erkennt das verschwindende Individuum als Ursache dessen, dass sich nichts ändert. „Dass wir nicht mehr können, erliegen, dass wir unrettbar sind, in der Kapitulation leben, das sagten wir nicht, wir fühlten es bloß, und es gab Waren dagegen, käufliche Stimmungen und Versprechen.“³ Das Marketing, die Werbung, Konsum und Ware sind allgegenwärtig als Betäubung für den durch sie selbst hervorgerufenen Schmerz. „Alle Modifikationen mündeten in dieser großen Bequemlichkeit und Verfügbarkeit, die wir kurz genossen, dann kaum mehr empfanden und durch einen neuen Lebenszustand ersetzten: die Überforderung, die Abstumpfung, die Kapitulation vor der Entmündigung. Ja, wir brannten aus in all der Reibungslosigkeit.“⁴ Im gleichen Maße, wie das Individuum sich an das Ganze verliert, besteht es verbittert auf seiner Individualität. Der Einzelne parzelliert sich in ein Mannigfaltiges. Das 20. Jahrhundert war süchtig nach der Beschleunigung, die immer weitergetrieben wurde, bis ein einzelner Moment nicht mehr einfach bleiben konnte, sondern simultan in Gleichzeitiges aufgelöst wurde. Und im Rauschen der Gleichzeitigkeit verliert sich die Spur des letzten kompletten Menschen. „Wir waren die, die verschwanden. Wir lebten als der Mensch, der sich in der Tür umdreht, noch etwas sagen will, aber nichts mehr zu sagen hat.“⁵ Die Kapitulation wird als das Gehen mit der Zeit rationalisiert. Das Individuum, welches noch eine kontinuierliche Persönlichkeit wäre, ist verloren, seitdem das Hier und Jetzt es nicht mehr hat. „Wir machten dabei nicht der Gegenwart allein den Prozess, sondern unserer eigenen Anwesenheit. Wir fanden, die Räume seien es nicht wert, dass man in ihnen verweilte, wir selbst fühlten uns nicht gemacht, hier zu sein und zu bleiben.“⁶ Gilt objektiv für die Moderne, dass wir aus dieser Welt nicht fallen können, so kommt das Subjekt gar nicht erst in ihr an.

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Man fordert dann Geistesgegenwart: „Bewusstsein hieße, in der Gegenwart anzukommen, die einmal die unsere gewesen sein wird.“⁷ Es ist der Ton desjenigen– der weder pessimistisch ist, noch resigniert –, der im Akkord mit seinem fatalen Schicksal steht. Geistesgegenwart fordert das Bewusstsein heraus, sich ins Hier und Jetzt einzulassen: solange wie dies nicht verwirklicht wird, bleiben wir die, die gleichzeitig gewesen sein werden, und sich dennoch selbst nicht einzuholen vermochten. Die Gegenwart ist gefüllt mit Menschen, die ihr kaum vermeidbares Unheil noch nicht sehen wollen. „Die Zeit der Realität ist vorbei, die der Realitäten tritt in ihre Blütezeit.“⁸ Déjà-Vu und beteuerte Echtheit bestimmen dann das Lebensgefühl. Vergessen wird erzeugt, bevor etwas ins Bewusstsein gedrungen wäre, dem man sich hätte erinnern können.

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Hier eine Kaufempfehlung für ein Werk auszusprechen, dass sich dem Angriff auf eine Welt aus Waren widmet, wäre bittere Ironie. Aber nicht lesen ist auch keine Lösung. Ich lasse das Dilemma so stehen.


1 Roger Willemsen, Wer wir waren. Zukunftsrede, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2016, S. 24 f.
2 S. 26.
3 S. 33 f.
4 S. 36 f.
5 S. 51.
6 S. 35.
7 S. 31.
8 S. 23.

Café Blau, Bonn

1 Kommentar

  1. Felix

    Moritz schreibt hier gelungen zu einem Buch, das ich selbst dreimal hintereinanderweg gelesen habe. Es ist gerade so kurz, so klug und so schön sprachlich gestaltet, dass man sich mit der pulsierenden depressiven Ader arrangiert. Schön. Ich würde eine Kaufempfehlung aussprechen.

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Moritz

Autor | Freiburg

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