lettre #004 edition: Faulenzen

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Bonjour!

Dies soll ein kleines Plädoyer werden. Ein Bekenntnis zum Faulenzen, eine Ode an die Freude des Zurücklehnens. Hoffentlich sind bei Ihnen jetzt, wo wir über Faulheit sprechen, nicht gleich alle Sicherungen durchgebrannt. Doch erst mal heißen wir Sie herzlich willkommen zu der vierten Ausgabe unseres kleinen Newsletters. Wir hoffen, dass Sie sich hier immer noch wohlfühlen. Sollte das nicht der Fall sein, melden Sie sich bitte umgehend. Abonnentenzufriedenheit nehmen wir sehr ernst. Und nun steigen Sie ein, die Fahrt geht gleich los.

 

Steile These: Wir müssen uns feiern fürs Nichtstun, damit Faulenzen wieder cool wird. Damit wären wir auch gleich beim eigentlichen Problem. Faulenzen ist verpönt, was dazu führt, dass wir es verlernen. Unsere Welt ist auch verdammt gut darin, uns das Faulenzen extrem schwer zu machen. Überall Unruhe, die To-do-Listen sind lang, da bleibt keine Zeit zum Faulenzen. Es ist ein Skill, den wir uns zurückerobern müssen. Wir merken selber, wie schwer uns das fällt. Denn wenn wir verlernt haben überhaupt nichts zu tun, einfach zu träumen oder aus dem Fenster zu starren, dann ist Faulenzen nicht mehr intuitiv. Es geht genau nicht darum, wie man am effektivsten abhängen kann oder in fünf Minuten den Stress einer ganzen Woche weg zu meditieren.

 

 

Vielmehr liegt es doch in der Natur des Nichtstuns, dass man sich mit der eigentlichen Realisation dessen gar nicht befassen soll. Faulenzen hat man gemeistert, wenn man sich keine Gedanken mehr darüber macht. Man faulenzt einfach. Einfach da sein für diesen Moment. Ende.
Moment mal. Sozialschmarotzertum, Hippie-Gutmensch und Leistungsverweigerung? Nö. Wir fragen uns einfach, ob wir die Untätigkeit nicht zu Unrecht verteufeln? Sich einfach mal bedudeln lassen von schöner Musik (dazu haben wir übrigens eine klasse Playlist kreiert), spannend-langweilige Dokus gucken (hier oder hier) oder nur daliegen und langweilen. Produktivität verabschieden, ablegen. Noch eine Idee: Ein ganzes Wochenende mit den Liebsten Karten spielen, einfach so.

Faulenzen funktioniert zum großen Teil außerhalb von bestehenden Normen. Weniger Dinge, weniger Bedürfnisse, weniger Konsum, dafür mehr Natur, mehr Zeit, Konzentration auf das Wesentliche. Ziemlich cool.

Über das Faulenzen nachzudenken kann uns auch helfen, neu darüber zu reflektieren, wie wir arbeiten und gut leben wollen und ultimativ auch darüber, wie wir auf einem Planeten leben sollen, den wir so übernutzen, dass wir eigentlich drei von ihm bräuchten. Das klingt jetzt erst mal nach einer ziemlichen großen Aufgabe für eine so unschuldige und zärtliche Tätigkeit wie das Faulenzen, doch verstehen Sie es eher als einen Türöffner.

Wir sehen aber bereits: Das Faulsein hat eine gewisse politische Brisanz. Faulenzen kann als theoretisch-kritischer Gegenbegriff zu jenem allgegenwärtigen Geist des Marktes werden. Wenn wir fragen, ob wir mehr Faulenzen sollten, dann suchen wir nach Möglichkeiten der (Neu-)Gestaltung des sozialen und politischen Gemeinwesens.

Musik N°1
Glass Animals – Wyrd

Ananas Vibes, Jungle Sounds und musikalische Abhängeinladung. Diese Band begleitet mich schon sehr lange und ist bis heute in meiner hot rotation. Ich kenne nichts, dass so klingt wie Glass Animals. Mystisch und minimalistisch aber voll gespickt mit kleinen Feinheiten, die es zu entdecken gibt. 

Vor kurzem haben sie ein sehr höhrenswertes Album rausgebracht aber ihr bestes Album bleibt weiterhin ihr Erstes: ZABA. Auf dem auch Wyrd zu finden ist.

Schwerpunkt.

Kennen Sie Heinrich Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“? Nein? Dann lesen Sie bitte diese großartige kurze Erzählung am besten gleich hier vollständig und überspringen Sie die hier folgende gekürzte Version.

„Irgendwo an einer Küste in Westeuropa: Ein ärmlich gekleideter Fischer liegt am Hafen und döst. Ein reicher Tourist kommt vorbei, knipst einige Fotos und fragt mehrmals, ob es dem Fischer gut gehe und weshalb er denn nicht in See steche, um einen guten Fang zu machen. Als der Fischer ihm antwortet, dass er heute schon einen kleinen Fang gemacht habe, rechnet ihm der Tourist vor, was er sich mit noch mehr Beutefängen alles kaufen könne: in einem Jahr einen Schiffsmotor, in zwei Jahren ein zweites Boot, dann einen Kutter, ein großes Kühlhaus samt Räucherei und ein Fischrestaurant – und schließlich eine riesige Marinadenfabrik, mit der er die ganze Welt beliefern könne. Der Fischer bleibt sichtlich unbeeindruckt, was den Touristen umso nervöser macht. Was denn dann passiere, will der Fischer wissen: ‚Dann‘, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, ‚dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.‘ – ‚Aber das tu ich ja jetzt schon‘, sagt der Fischer, ‚ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.‘ Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.“      (Zeit Online entnommen)

Faulenzen deluxe Sommer, 2020

In dieser kleinen Erzählung steckt eine große Wahrheit. Zum Glück braucht es nicht viel, nur das Wesentliche. Und: Wir leben nicht, um non-stop zu arbeiten, sondern wir arbeiten, um dann ein gutes, erfülltes Leben zu führen. Im Übrigen arbeitet wahrscheinlich kein Lebewesen so viel wie der Mensch. Wir sind negativ formuliert Spitzenreiter darin unsere Lebenszeit mit (Erwerbs-)Arbeit zu vernichten. Zugegeben, es gibt auch wirklich erfüllende Arbeit, die Sinn stiftet und Menschen zu Persönlichkeiten macht und ja, es gab schon üblere Zeiten, wo noch mehr gearbeitet wurde (in den 1870er-Jahren 72 Stunden die Woche z. B.).

Wir könnten uns aber ein Vorbild nehmen am Koalabär – das genaue Gegenteil von einem Arbeitstier. Ein Koalabär isst ein paar Eukalyptusblätter am Tag und döst dann einfach. Wenn sie nicht um die 18 Stunden am Tag schlafen können, sterben die Tiere vor Erschöpfung. Jetzt können Sie natürlich zu Recht sagen, dass der Koalabär auch nicht Venedig oder Machu Picchu konstruiert hat – guter Punkt. Aber darum soll es ja gar nicht gehen. Der Koalabär perfektioniert ein Konzept, das von Ökonomen als „Zieleinkommen“ oder auch „Suffizienzwirtschaft“ bezeichnet wird. Suffizient zu wirtschaften bedeutet, die natürlichen Grenzen unseres Planeten zu berücksichtigen und möglichst wenig Ressourcen zu verbrauchen. Und hier müssen wir Menschen noch große Fortschritte machen. Vielleicht tauschen wir schon bald wieder von Profit und Wachstum zum „Zieleinkommen“ zurück, weil wir keine andere Wahl haben.

Musik N°2

Fenster – The Room (Album)

Die Band Fenster ist mir ein kleines Rätsel, das zeigt, wie viel Musik im Leben versteckt ist, die wir nicht mitbekommen, weil sie nicht großartig vermarktet wird. Fenster ist eine Band, die man live sehen sollte und deren Musik man idealerweise am Stück konsumiert, also im ganzen Album. Dazu stehen einem zwei zur Verfügung: The Room und Emocean, beide gelungen, wobei Letzteres eigentlich ein Soundtrack zu einem von der Band selbst produzierten Film ist. Also hören Sie mal rein, ich habe Fenster über ein Konzert im HAU entdeckt und war ziemlich beeindruckt von ihrem coolen Auftritt. Die Bar vorm Konzertsaal wurde an diesem Januartag von den hippesten Leuten Berlins bedrängt (hach, Konzerte!). Es war mehr eine Art Freundeskreistreffen von Menschen, die etwas mehr investieren in Musik als die Charts durchzuhören oder sich mit Spotify Weekly Mixtapes irgendwie durch die Woche zu schaukeln. Natürlich eignet sich die melancholisch-spacige Musik von Fenster super zum Faulenzen. Psych-Pop, Synthesizer-Arpeggios (gebrochene,Akkorde), Funk, R&B-Groove, warme Synthesizer, all das findet man in der verspielten, teils tanzbaren Musik von Fenster. Their sound is a window framing psychedelic, groovy, hypnogogic, playful pop. Kommen Sie in The Room, viel Vergnügen!

Relax statt Rolex.

(Slogan entliehen vom Transform Magazin)

Faulenzen ist Luxus, behandeln wir es auch als solchen! Wir müssen das Faulenzen wieder mehr wertschätzen, sowohl gesellschaftlich als auch ganz einfach für uns selbst. Wir sollten uns öfter davon frei machen, etwas tun zu müssen, und ebenso sollten wir anderen erlauben, sich diese Freiheit auch zu gönnen. Aber wenn das alle täten? Bestehen Sie aufs Faulenzen. Le droit à la paresse. Das ist ein äußerst befriedigendes Gefühl, stellen sie es sich vor wie einen ganz kurzen Urlaub. Freuen Sie sich des Lebens. Die Notwendigkeit von Urlaub scheint uns meist einleuchtend und weitesgehend akzepiert, doch sich von 14 bis 15 Uhr einfach mal hinzulegen erzeugt mindestens mal Stirnrunzeln. Diese Einsicht bringt widerum unsere Stirnfalten zum Vorschein. Das ergibt doch wenig Sinn, von der bewiesenen Notwendigkeit kurzer Pausen mal ganz abgesehen

Es ist doch paradox: Wir streben insgeheim nach Faulheit, aber preisen hemmungslos lautstark die Arbeit.

Fragen Sie doch mal Ihre Freunde, wann sie das letzte mal aktiv gefaulenzt haben, und leisten Sie bei Bedarf Nachhilfe oder Beistand. Faulenzen hilft auch dabei, einen kühlen Kopf zu bewahren, überhitze Gemüter zu beruhigen oder über Dinge noch mal ein zweites Mal nachzudenken. Es ermöglicht, überhaupt erst mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Es hilft, den manchmal nötigen Abstand zum Affekt zu bekommen. Nach einer kurzen Runde im Park sehen die Dinge schon oft ganz anders aus, mit ein bisschen Glück hat es sich ganz erledigt. Das fördert auch die eigene Lässigkeit. 

Lehnen Sie sich also zurück und legen Sie Ihre Lasten beim Eintreten in diese wundersame Welt ab. Faulenzen ist angesagt! Machen Sie es gut.

Jan & Felix

Disclaimer: Von dauerhaftem Faulsein ist ggf. abzuraten, schon allein aus lebenspraktischen Gründen. Zu viel Langeweile ist schließlich auch nicht so gut, aber das wollen wir an dieser Stelle einfach mal ignorieren.

Musik N°3

Metronomy – The Bay & The Look

Faulenzen hat auch viel damit zu tun, den allgegenwärtigen Drang zur Perfektion abzulegen. Faulenzen kennt keine Maxime, Faulenzen sollte keinem Ideal folgen oder sich bestimmten Konventionen beugen. Es ist eine Sache des persönlichen Gefühls. Faulenzen sollte sich nicht kapern lassen, wie der Mindfullness Trend zeigt, was sehr scharf im britischen Guardian analysiert wird. Das gilt natürlich auch für den gewählten Ort an dem das Faulenzen stattfindet. Paris, London, Tokyo oder Berlin sind spannende, angesagt Orte, an denen coole Kids coole Dinge tun. Doch das sollte uns beim Faulenzen nicht weiter interessieren. Im Gegenteil, der Trubel und der Hype der Stadt kann dem Faulenzen sogar Hürden in den Weg stellen (wir verweisen an dieser Stelle auf unseren Newsletter zum Thema Stadtflucht). Das hat auch Metrononmy verstanden und ein Lied über Torbay geschrieben, einen scheinbar unscheinbaren Ort an der Küste Englands.  

It feels so good
In the bay
   

Auch Soundtechnisch sehr gut zum Faulenzen. Nicht zu schnell, nicht zu langsam. Zum Mit-dem-Kopf-Wippen, herrlich zum Schlendern oder einfach für eine kleine Auszeit zwischendurch. Ganz nebenbei sei noch erwähnt, dass das Album English Riviera auf dem auch The Bay erschienen ist, großartig ist (den Großteil der neueren Album von Metronomy kann man sich jedoch getrost sparen). Eine gute Anspielstation ist zum Beispiel auch The Look.

Faulenzen kann man auch gut in Parks. Helsinki, 2019.

Musik N°4

Kool & The Gang – Rated X, Ruth Brown & Her Rhythmakers – I Don’t Know

 

Zwei Songs, die nichts gemeinsam haben, außer halt ihren mitreißenden Sound, und dass sie beide Teil des Soundtracks von Fatih Akins Soul Kitchen sind – seiner filmischen Hommage an Hamburg, die zur Zeit bei arte zu sehen ist. Kool & The Gang nutzen Sie am besten zum Aufdrehen und Ruth Brown nachdenkliches Stück, um wieder runter zu kommen. Ich habe den Film vor Jahren gesehen, ja er ist ziemlich überdreht, aber eben auch ziemlich cool, was besonders durch die gute Musik getrieben wird. Es geht es um wirklich existenzielle Dinge. Um Trinken, Essen, Feiern, Tanzen, um Heimat, Liebe und Freundschaft. Wenn Sie noch nicht so ganz frei Faulenzen können, sehen Sie diesen Film und lassen Sie sich von der Musik anstecken und den Menschen der Soul Kitchen den Kopf verdrehen.

The end.

Das war unser vierter Newsletter. Diesmal pünktlich im August. Hat es Ihnen gefallen? Wir freuen uns über Feedback, etwaiges Weiterempfehlen und auch über neue Abonnements. Tatsächlich wird sonst niemand von diesem Newsletter erfahren, da wir keine Werbung machen. Es bleibt also nur Ihre Empfehlung. Wie es so schön heißt: Subscribe now. Newsletter haben nachwievor etwas von Spam, Werbung, Nötigung. Leider, denn damit wollen wir rein gar nichts zu tun haben. Die Email zum lettre heißt: newsletter@kollektivindividualismus.de. Und im Internet kann man nach wie vor unsere Website besuchen, abhängen und staunen.

Wir sagen à bientôt und bleiben Sie uns gewogen.

Bildcredits: © Jan Nitschke © Felix Vieg © Felix Vieg © Jan Nitschke


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SdW #234 Lescop – La forêt

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SdW #233 War – Low Rider

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lettre #004 edition: Faulenzen

lettre #003 edition: Unruhe

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Bonjour!

Hier kommt Ausgabe drei von unserem Newsletter – nicht mehr so ganz im Juli. Bitteschön. Die Idee monatlich über ein Thema und etwas Musik zu schreiben, hatten wir Anfang des Jahres 2020. Ob das eine gute Idee war? Wir haben vielleicht ganz kurz daran gezweifelt als wir feststellten, dass es schon wieder Zeit ist, in die Tasten zu hämmern und Emailpost abzuliefern. Aber dann lasen wir nochmals unsere letzte Ausgabe und die Antworten darauf und Schwupps-die-wupps waren alle Zweifel verflogen. Wir freuen uns sehr über jedes warme und jedes kalte Wort und sind nach wie vor gespannt von Ihnen zu hören, ob es gefallen hat. Wenn es gefällt: Bitte empfehlen Sie uns weiter. Kostet nichts, aber macht uns immer eine große Freude (neue Namen in der Liste zu haben).

2020. Ein wirklich aufregendes Jahr, das erst vor Kurzem in die Halbzeit ging und uns ziemlich herausfordert. Wir sind sehr gespannt, was da noch so kommt. Im Juni haben wir uns gefragt wie wir wo wohnen und wohin wir fliehen, wenn uns alles zu viel wird. Unsere letzte Ausgabe zum Thema Stadtflucht finden Sie hier. Wir stellten auch fest, oder besser gesagt forderten Sie auf „Geht auf die Straße und macht was!“, niemand wird Probleme lösen, wenn wir nicht aktiv werden. Ist es Zeit für Unruhe? Wir finden: Ja, wenn es darauf ankommt, bewahren Sie ruhig Unruhe.Ansonsten gilt in unser schnelllebigen Zeit vermutlich eher im Gegenteil: Ruhe ist Luxus.

Hier kommt also eine gehörige Portion Unruhe. Voilà. Gute Musik ist natürlich auch dabei (weiter unten und in der Playlist zum Newsletter) Und am Ende finden Sie vielleicht auch Ihre Ruhe. Sei es ganz im Inneren oder beim bedächtigen Lauschenin einer warmen Sommernacht, wenn alles ruhiger wird. Bitte bewahren Sie die Unruhe! Viel Vergnügen!

Schwerpunkt.

Wir leben in einer unruhigen Welt. Und wir lassen uns vermutlich jeden Tag von dieser Unruhe (an)treiben und anstiften, aber auch nervös machen. So viel scheint sicher, der Rest ist nicht ganz klar. Was ist Ruhe? Wenn das Fenster zu ist und der Lieferverkehr draußen etwas leiser stört? Wie findet man Ruhe, wenn es nicht ausreicht einfach das Fenster zu schließen? Und warum ist Unruhe manchmal viel spannender und teils gar notwendig?

Erst einmal wollen wir versuchen den Begriff Unruhe für uns etwas einzugrenzen. Die Unruhe ist ein ambivalentes Etwas. Wir können aus ihr Energie gewinnen, Rastlosigkeit kann uns an neue Orte treiben, sie kann uns helfen Neues zu probieren und uns oder die Welt neu zu erfinden. Andererseits ist Unruhe oft ein ungewollter Begleiter, Stress kommt ungefragt und bleibt uns hartnäckig im Nacken. Wir wollen über Unruhe nicht kategorisch urteilen. Ihr einen Wert in Form des Guten oder Bösen zuzuschreiben scheint zu einfach. Wie so oft merken wir: Es ist kompliziert.

Für viele, so scheint es manchmal, gehört eine Prise Unruhe zum Leben dazu, ein gewisses Grundrauschen, welches das Leben erst Lebenswert zu machen scheint. Oder haben viele nur verlernt, was Ruhe ist, und dass auch sie ihren gerechtfertigten Nutzen haben kann? Man muss wohl oder übel lernen, zwischen der Ruhe und ihrer Antagonistin, der Unruhe, zu vermitteln. Den richtigen Filter finden, den man auf unsere aufbrausende, tosende und chaotische Welt legen kann. Oft merken wir, dass wir in einer Gesellschaft leben, die das Ertragen von Unruhe honoriert und den Rückzug ins Ruhige als Schwäche pauschalisiert. Dem sollten wir uns öfter widersetzen. Ab und zu einfach mal den Stecker ziehen. Das haben wir uns auch zu Herzen genommen, weshalb dieser Newsletter auch so spät versendet wird. Machen wir aber erst mal weiter mit etwas Musik.

Musik N°1

Da wir ja des Öfteren über Musik schreiben, dachten wir bei Unruhe schnell an Jazz. Gibt es ein Genre, was in seinem Facettenreichtum besser zum Thema Unruhe passt? Wohl kaum. Vermutlich fällt es auch deshalb vielen jungen Menschen schwer, einen Zugang zu Jazz zu entwickeln. Stattdessen werden so manche bei Robin Schulz oder Lady Gaga fündig – das verspricht Sicherheit in einer unruhigen, volatilen Welt. Wir möchten an dieser Stelle trotzdem ein bisschen Jazz-Musik teilen und zwar zunächst ein herrlich unruhiges Stück von Jutta Hipp. Sie hat Malerei in Deutschland studiert, spielte dann aber Jazz während des Zweiten Weltkrieges, obwohl Jazz den Nazis zu unruhig war, floh aus der ostdeutschen Besatzungszone nach München, weil es auch dort mit Jazz schwierig war.

Im Westen war durch den amerikanischen Einfluss mehr Jazz in kleinen Kellerklubs angekommen und so spielte Jutta Hipp Klavier, nahm mit Hans Koller auf und landete schließlich auch als eine der ersten Frauen und Weißen beim großen Label Blue Note. Dort entstand dann auch das Album mit Almost Like Being In Love drauf, nämlich Jutta Hipp with Zoot Sims (Blue Note, 1956). Sie wurde damit in der BRD eine Erscheinung und war wohl ziemlich bekannt. Zum unruhigen Leben dieser spannenden Musikerin gehört auch ihr plötzliches Karriereende und dem Wechsel zurück zu Malerei und Design. Irgendetwas wurde ihr zu viel. Sie mochte die großen Auftritte nicht, unterdrückte Lampenfieber scheinbar mit Alkohol und schrieb Freunden immer wieder, dass der richtige Jazz in den kleinen Klubs zu finden sei.

Dem kann ich aus meiner Pariszeit nur zustimmen, die Stimmung in einem verschwitzten Keller voller Klang und Menschen (leider heute undenkbar) ist einmalig. Ich hoffe, dass die zahlreichen Klubs in Paris und New York (und sonst wo) das irgendwie überleben, denn nach wie vor hat es Jazz besonders schwer. Weil er Unruhe bewahrt? Kompliziert ist, wie unsere Gegenwart? Jedenfalls sehr faszinierend.

John Coltrane ist einer der bekanntesten und einflussreichsten Jazzmusiker des 20. Jahrhunderts – keine Frage. Weniger bekannt ist seine Frau Alice Coltrane, die eine hervorragende Pianistin war und noch lange nach Tod ihres Mannes Jazzmusik machte. Ptah The El Daoud erschien im Jahr unserer Geburt und ist eine wundervolle Aufnahme. Alice Coltrane ist eine Pionierin des Jazzpiano, die sich mutig und selbstbewusst über Konventionen hinweggesetzt hat. Improvisation – das Wesen des Jazz. Unruhe in ungerechten Zeiten.

To-Do und To-Go.

In unserem Alltag schreiben wir ständig To-do-Listen. Wir haben schließlich verdammt viel vor und das wird ja auch von uns erwartet. Vermutlich hat die Unruhe, die wir erleben, nur bedingt mit dem Lärm der Stadt zu tun, sondern rührt eher aus unserem Drang das perfekte Leben zu leben und, vielleicht noch wichtiger, das auch nach außen zu kommunizieren. Leben wir in einer Gesellschaft, die diejenigen bevorzugt, die möglichst viel Unruhe abkönnen? Wir leben in einer Hochleistungsgesellschaft, da bleibt wenig Zeit zum Durchatmen. Das müssen wir dann schon To-Go erledigen. Nur doof, dass der Kaffee To-Go in U-Bahn leider echt großer Käse ist. Nicht nur wegen des Einwegbechers, auch wird damit der Kaffee seiner Kultur beraubt„Wer keine Zeit hat, sich für einen Kaffee oder Drink oder Snack an dem Ort seiner Ausgabe aufzuhalten, sollte mal über sein Leben nachdenken.“ Das streben nach dem (scheinbar) Nützlichen mündet viel zu oft in Unruhe. Wieso ist das so? Gibt es keinen Sinn in der Ruhe? Warum suchen wir nicht öfter nach dem Wesentlichen?

Unser Blick: Ruhiges Meer im Sommer, 2020

Musik N°2

Egal was man über das Anfang des Jahres erschienene Album von Fiona Apple gelesen hat, es war immer euphorisch. Wir können uns dem nur anschließen und kürten es bereits zum Soundtrack der Woche. Ein großartig unruhiges Album, brutal und schön. Diese Musik passt herrlich zu diesem Newsletter, weil sie diese Nonkonformität in sich trägt. Kein Song kommt ohne ein ein wenig Geschrubbel oder rhythmischer Brüche daher. „A strange, exceptional record„, schrieb der Guardian dazu.

Wir wollen an dieser Stelle auch gar nicht versuchen den zahlreichen Lobesliedern noch etwas hinzuzufügen und belassen es Sie mit ein paar handverlesenen Zitaten vertraut zu machen.
 

— Under The Table —
I’d like to buy you a pair of pillow-soled hiking boots
To help you with your climb
Or rather, to help the bodies that you step over, along your route
So they won’t hurt like mine
Kick me under the table all you want
I won’t shut up
 
— Cosmonauts —
You and I will be like a couple of cosmonauts
Except with way more gravity than when we started off
 
— Newspaper —
Oh, I too, used to want him to be proud of me
And then I just wanted him to make amends
I wonder what lies he’s told you about me
To make sure that we’ll never be friends
 
— Fetch the Bolt Cutters —
I grew up in the shoes they told me I could fill
Shoes that were not made for running up that hill
And I need to run up that hill, I need to run up that hill
I will, I will, I will, I will, I will

Meditation.

Meine Krankenkasse schenkt mir ein Jahr die Meditationsapp und schon werde ich vorm Burn-out bewahrt. Was wir auch beobachten: Das Streben nach Ruhe endet für die modernen Großstadtbewohner (uns eingeschlossen?) oft in einer krampfhaften Suche nach dem inneren Selbst und nach ständigem Ausgleich oder gelegentlicher Stadtflucht. Sanfte Stimmen aus unseren Smartphones sollen uns für unsere allmorgendliche Meditationsession motivieren. Für nur 19.99€ im Monat! Alles im Namen der Entschleunigung. In einer weitestgehend sinnentleerten Welt des unverzichtbaren Wachstums und dem notwendigen immer mehr, wird es ziemlich anspruchsvoll Ruhe zu finden. Meistens müssen wir dafür dann auch noch bezahlen.

Newsletter schreiben in der Hitze, 2020

Musik N°3

Mein Cousin T postet auf seinem Instagram-Account immer wieder gute Musik, genauer gesagt, legt er Platten auf, die er mag. So bin ich auch auf dieses coole Album aufmerksam geworden, das sich super für heiße Sommertage eignet. Zu Beginn schallt es aus den Lautsprechern des fiktiven Raumschiffes: „Herzlich willkommen! Wir freuen uns, Sie an Bord zu haben. Genießen Sie Ihren Aufenthalt und haben Sie eine entspannte Reise.“ Es folgt eine wilde Odyssee, von funky bis entspannt ist alles dabei. T hat einen super Musikgeschmack und ich bin beeindruckt von der Anzahl an Schallplatten, die er mittlerweile besitzen muss. Schön, dass er sie auch ab und an für uns auflegt.

Fenster zu, Unruhe raus, Berlin, 2020

Ruhe & Parmegiana.

Wir können sagen, wir haben in den letzten Wochen Ruhe gefunden. Beim morgendlichen Schwimmen in der Adria oder dem gemeinsamen Zubereiten einer Parmegiana (Rezept). Probieren Sie es aus! Die Aubergine ist das Gemüse der Ruhe, denn wer die Geduld beim zubereiten verliert, hat verloren.

Das Rezept ist noch einfacher als im Link oben beschrieben. Für 4-6 Personen 4-5 großen Auberginen grob Schälen (die Schale ist teilweise sehr hart) in ca. 8 mm dicke Scheiben schneiden. Für ca. 45 min in den Backofen bei hohen Temperaturen ohne Salz und ohne Öl austrocknen bis die Scheiben eine gesunde Bräune bekommen haben. In der Zwischenzeit einen Tomatensugo aufsetzen: Gute Tomaten aus zwei Dosen (wir mögen Mutti) mit Knoblauch, Pfeffer Salz ohne all zu viel Rühren zu einem cremigen Sugo einkochen. Er sollte am Ende nicht zu wässrig sein.Mozzarella (vielleicht so 3-4) Packungen in Scheiben schneiden, Parmesan (Parmegiano Regiano) reiben und bereitstellen. Dann braucht man noch Semmelbrösel. Am besten schmecken solche, die man aus altem Weißbrot selbst gemacht haben. Wir schichten dann in eine geölte Form Aubergine, Sugo, ein paar Blätter Basilikum, Mozzarella, Semmelbrösel und Parmesan. Die letzte Schicht schließt mit Aubergine, Semmelbrösel und etwas mehr Parmesan. Dann wird die Parmegiana für mindestens 45 Minuten bei 160 Grad in den Ofen gegeben und Sie warten, bis die Zutaten in ihrem Kern zu einer cremigen, würzigen Einheit verschmelzen. Bon Appetit!

 
Herzlich
 
Felix & Jan

 

Musik N°4

Ein Feedback von der lieben E zu unseren letzten Newsletter war zu Angèle, die wir als poppig bezeichnet haben und wünschte sich ruhig noch mehr Pop. Dem Wunsch können wir natürlich nachkommen. An dieser Stelle möchten wir Ihnen einen weiteren King of Pop präsentieren: Tom Misch. Er war unserer 30. Soundtrack der Woche, 2016, damals schrieben wir mit Witz: „Gute Mische. Mr. Misch zählen wir zu den vielversprechendsten Newcomern von der Insel, die sich soeben aus der europäischen Staatengemeinschaft verabschiedete.“. Hätten wir gewusst wie lange sich der Brexit noch ziehen würde! Tom Misch ist ein Multitalent und kann, grob so alt wie wir selbst, Komponist, Gitarrist, Violinist, Singer-Songwriter, Produzent und DJ in einem sein. Meistens geht das ja gründlich schief, aber in diesem Fall muss man mal attestieren: Der Mann kann Musik. Jetzt kommt er hier aber nicht allein und nicht mehr ganz so poppig, sorry. Er spielt und produziert auch mit vielen spannenden Musikern wie Loyle Carner oder eben jetzt eben dem Schlagzeuger Yussef Dayes.

Nach seinem etwas überpolierten Debütalbum bringt What Kinda Music einen wirklichen Hoffnungsschimmer. Als Paar bringen Dayes und Misch das Beste aus einander hervor. Wo das Debüt fast zu sauber war, ist What Kinda Music mit der Tiefe und Dunkelheit der Rhythmen von Dayes vermengt, was Mischstonhöhenmäßig perfektem Gesang ausgleicht. Dies trifft insbesondere auf „TidalWave“ zu, wo Dayes‚ Trommelwirbel und Holzklopfer mit den Sticks einen Kontrapunkt zu Mischs vielschichtigem Gesang bilden. Yussef Dayes kennen wir von seinem vorherigen Band Projekt Yusseff Kamaal (SdW#178) und auch Solo (SdW #160) als spannenden Schlagzeuger. The Independent in England schreibt über das Spiel von Dayes: „Jede Note scheint bei ihm von einem Elektroschock ausgelöst zu werden – man weiß nie genau, ob er Schlagzeug spielt oder das Schlagzeug ihn. Er arbeitet unermüdlich und mit enormem Fingerspitzengefühl.“ Von der besonderen Erfahrung, wieder ganze Alben zu hören, haben wir ja bereits im ersten Newsletter geschrieben, hier haben Sie noch mal die Gelegenheit.

La fin.

Das war unser dritter Newsletter. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen. Wir freuen uns über Feedback, etwaiges Weiterempfehlen und auch über neue Abonnements. Tatsächlich wird sonst niemand von diesem Newsletter erfahren, da wir keine Werbung machen. Es bleibt also nur Ihre Empfehlung. Wie es so schön heißt: Subscribe now. Newsletter haben nachwievor etwas von Spam, Werbung, Nötigung. Leider, denn damit wollen wir nichts zu tun haben. In der ersten Ausgabe haben wir geschrieben, warum wir das Medium Email so toll finden. Nachlesen können sie das hier. Antworten und Feedback gerne an uns! Die Email zum lettre heißt: newsletter@kollektivindividualismus.de. Und im Internet kann man nach wie vor unsere Website besuchen, abhängen und staunen.

Wie immer: Bleiben Sie uns gewogen.

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SdW #233 War – Low Rider

War ist eine amerikanische Funk-Band aus dem Jahr 1969, die Elemente verschiedener Stile wie Rock, Jazz, Reggae und Latin kombiniert. Für alle Low Rider. https://songwhip.com/war/low-rider      Mehr Soundtrack der WocheOther SdWSITEMAP Soundtrack der...

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lettre #002 edition: Stadtflucht mit Felix & Jan

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Bonjour!

Weiter geht’s mit Nummer zwei. Ein Thema und etwas Musik, das hatten wir uns vorgenommen für unseren monatlichen Newsletter. Die erste Ausgabe gab es im Mai, als wir alle schwer beeindruckt von Corona, langsam etwas aufatmen konnten, und wir haben übers neu anfangen geschrieben. Wir sind nach wie vor gespannt von Ihnen zu hören, ob es gefallen hat. Danke für alle Rückmeldungen, die wir schon erhalten haben, das freut uns sehr.

Wir sind ja alle schrecklich geplagt und genervt von dieser Zumutung namens Corona (oder?), also relaxen wir an dieser Front ein wenig und versuchen eine möglichst Corona-freie Ausgabe zu kreieren. Blicken wir nun gemeinsam auf ein ganz eigentümliches Verhältnis, das wir alle kennen, nämlich wie wir, wo wohnen und wohin wir fliehen, wenn uns alles zu viel wird. Wir senden diese zweite Ausgabe von lettre mit dem Titel Stadtflucht. Voilà. Gute Musik ist natürlich auch dabei (weiter unten und in der Playlist zum Newsletter) Viel Vergnügen!

Schwerpunkt.

Wir zwei Autoren dieses Newsletters haben die Hochphase der Corona Krise in völlig unterschiedlichen Wohnsituationen erlebt. Der eine blieb in seiner WG in Berlin, der andere floh aus der Stadt und verbrachte die Tage mehr oder weniger auf dem Land, ein paar Kilometer vor den Toren Hamburgs. Nicht zu den eigenen Eltern, aber das haben auch viele unserer Freunde getan – alle in ihren Mittzwanzigern und betont erwachsen ansonsten. Wir stellten uns also ganz bewusst die Frage, wo wir mit wem eine vermutlich einzigartige Zeit verbringen wollten. Wohnort und Wohnart spielten dabei sicherlich eine entscheidende Rolle, weil sie plötzlich so sehr an Relevanz gewonnen haben.

Auf einmal mussten wir wirklich Zuhause zu Hause sein und dort “wohnen”. Auf einmal fand dort der Großteil unseres Lebens statt und nicht, wie sonst, außerhalb davon. Können Sie sich das eigentlich vorstellen? Früher verbrachten Generationen einen Großteil ihres Lebens Zuhause. Heute ist das für viele ein schwer zu ertragender Ausnahmezustand. Die Coronapandemie hat den modernen Nomaden (uns) zur Immobilität verdammt. Was macht das mit uns? Was ist uns wichtig? Wie wollen wir, wo wirklich wohnen? Zwangsweise haben wir uns intensiver mit der Frage auseinandergesetzt. Je länger wir darüber nachdenken, desto mehr verlaufen wir uns in einem Labyrinth an Gedankenspielen und -experimenten. Wir wollen versuchen dies ein wenig zu strukturieren und unser Ideen-Ping-Pong in drei Sätzen zu spielen: Stadt-Land-Flucht.

Musik N°1

Ein Freund hat mir mal gesagt, Lisbon, OH von Bon Iver sei der perfekte erste Song für fast jedes Mixtape. Recht hat er! Er ist eine Art Einkehrkatalysator, der pep talk einer jeden Playlist. Die Sirenen, die Blipps und das Piepsen, die schrägen Akkorde zu Beginn haben etwas mechanisches, synthetisches und fesselndes. Mit einem Akkord wird dieses Korsett zum genau richtigen Zeitpunkt aufgelöst. Eine unglaubliche Befriedigung. Der Hörer wird sich nun mit einer angemessenen Einstellung ihrem Mixtape wenden. Glauben Sie mir!

Aber weiter zu dem Herrn, um den es hier eigentlich gehen soll, Justin Vernon, formally known as Bon Iver. Wir gehen mal davon aus, dass es an dieser Stelle keiner weiteren Vorstellung bedarf. Was aber einige nicht wissen mögen: Justin Vernon kommt aus der tiefen Provinz Wisconsins und lebt bis heute in der kleinen und ruhigen Stadt Eau Claire, was ihn für diesen lettre so interessant macht. Er hat sich ganz bewusst und trotz steigender Instagram-Follower-Zahlen gegen die eigene ‚Urbanisierung‘ entschieden. Darüber hinaus versucht Vernon seinen Erfolg zu nutzen, um dem Städtchen etwas zurückzugeben: Er kuratiert ein Festival in der Stadt, lässt die Größen der Branche bei ihm im Studio antanzen, schenkt dem grandiosen Film Give Me Liberty einen Soundtrack und versucht Künstler und Kulturschaffende in der Region unter die Arme zu greifen. Pitchfork hat ihn letzten Jahr auch besucht und eine schöne Geschichte dazu aufgeschrieben. Kultur und Stadtflucht, das passt vielleicht also doch zusammen – wie beruhigend.

Lisbon,OH wollen wir nun auch nutzen, um ein klitzekleines Miniatur Bon Iver Mixtape einzuleiten. Gefolgt wird er von Minnesota, WI, Skinny Love, und 33”GOD”. Eine kleine Reise durch die musikalische Welt des Bon Iver. Eine kleine Hommage an den Gott des Vocoders und den, für uns, wohl größten Popkünstler unserer Zeit.

STADT.

Städte sind ja etwas absolut Faszinierendes. 77 % der Deutschen leben in Städten. Städte leben mit dem Paradox, dass man dort nie alleine ist und sich doch oft alleine fühlt, wie es schön auf zeit.de geschrieben wurde.

Abstraktion: verdichtete Unterschiedlichkeit als Einheit. Ein total widersprüchliches Konglomerat von unterschiedlichsten Akteuren und Funktionen, auf engstem Raum miteinander verbunden und aufeinander angewiesen. Ein buntes Potpourri. Wir beobachten lauter unmögliche Dinge (fehlender Breitbandausbau, kaputte Schulen und Fahrradwege, Stau, Straßen voller Blechlawinen, vermüllte Parks, Kriminalität, schleppende Energiewende usw.), die in konkreten Räumen a.k.a. Nachbarschaften plötzlich möglich werden. Das heißt, eigentlich ist die Stadt von heute ein Transformationslabor: Makrostrukturen der Gesellschaft, die im Mikrokosmos Stadt irgendwie funktionieren müssen. Wir müssen es miteinander aushalten und so organisiert sich das Stadtleben. Ab einem gewissen Level von Unordnung entsteht Ordnung im System (Kybernetiker sagen “order from noise”). Umgekehrt ermöglicht Ordnung auch ein Level an Unordnung: Wir können friedlich miteinander leben in der Stadt. Nur weil wir eine ordnende Struktur haben, die uns Halt gibt, können wir so viel Unterschiedlichkeit an politischen Einstellungen, Menschen, Religionen, sexuelle Orientierungen usw. ausleben. 

Stadtleben in Paris, 2018

Konkretion: Wenn die Stadt Probleme lösen kann, dann bedeutet das: Vergesst die UN, vergesst Trump und andere skrupellosen Stimmungsmacher – sie werden eure Probleme nicht lösen. Geht auf die Straße und macht was! Fordert Klimagerechtigkeit, kämpft gegen Rassismus, Gleichberechtigung und Solidarität. Städte werden Wandel treiben.

Woche für Woche tauchen wir in diese wundervolle Welt ein, die uns die Stadt vor die Füße wirft. Wir schwitzen in kleinen Konzerthallen, sitzen in renommierten Theatern und hippen Programmkinos oder essen uns an einem Tag dreimal um die Welt. Wir genießen das alles, sagen wir, manchmal verlieren wir sogar den Sinn dafür, wie viel Kultur wir konsumieren (ja, konsumieren ist hier oft das richtige Wort, aber das ist ein ganz anderer Newsletter). 

Ein spannender Gedanke, der auch im oben verlinkten Artikel aufgegriffen wird: “Freizeit wird verbracht. Die Menschen konsumieren die Stadt, ganz so, wie sie einander konsumieren.”

Musik N°2

Als ich mir mit meiner Freundin den wunderbaren Film Caro Diario von Nanni Moretti (1993) ansah und selbiger mit seiner Vespa durch ein menschenleeres Rom fährt, viel mir im sowieso gelungenen Soundtrack ein Song sofort auf, den ich aus meiner Kindheit kannte: Batonga von der beninisch-französischen Sängerin Angélique Kidjo. Auch wenn ich damals nicht wusste, was gesungen wird (ist ja oft der Fall), liebte ich diesen Song und prägte mir das Cover vom Album Logozo ein. Batonga erinnert mich unweigerlich an die potente HiFi-Anlage im damaligen Wohnzimmer und das Tanzen auf dem dicken roten Teppich als Kids. Der Song ist so cool, lässig und treibend. Sehr zu empfehlen.

Gleiches gilt übrigens für Caro Diario, einen Film, der eine Reise der Selbstentdeckung ist. Worum geht es? Zuerst fragte ich mich, ob es überhaupt um etwas ging. Denn zunächst einmal scheinen es drei Filme in einem zu sein. Wir streifen mit Moretti (und seiner Vespa) durch die heißen Straßen Roms und er weigert sich viel Schönes in dieser schönsten aller Städte zu finden. Dann fliehen wir aus der Stadt, besuchen die winzigen Inseln vor Kalabrien und versäumt es, viel Gelassenheit zu finden, obwohl der Ort nur so danach schreit. Im dritten Teil wird es dann nochmal komisch ernst um die Absurdität unseres Lebens gehen. Oft scheint sich der Filmemacher auf einer Reise ohne Ziel zu befinden. Sympathisch.

Moretti in Rom, 1993

Da gibt es eine Szene im Film, wo die Erzählung wegfällt und wir Moretti zu dem Ort außerhalb Roms folgen, an dem der Dichter und Filmregisseur Pier Paolo Pasolini im November 1975 ermordet wurde. Hinter der Vespa gefilmte, sehr minimalistische Aufnahmen, zu einer rauschhaften Improvisation von Keith Jarrett geschnitten. Ein Moment aus Licht, Bewegung, Rhythmus, flimmernden Formen und Stille. The Köln Concert und das erfolgreichste Solo-Jazz-Album ever. 

LAND.

Wir sehnen wir uns nach der Ruhe des Dorfes, wir wollen draußen sein und nicht in Wohnungen eingesperrt, wir wollen in den Wald gehen und nicht in dröge Stadtparks, unsere Zeit nicht an Ampeln verschwenden. Oder merken nun auch wir, die wir uns so oft als hyper dynamische, anpassungsfähige und niemals-zur-Ruhe-kommende Digital Natives und Globetrotter verstehen, dass sich auch uns die Welt in der Stadt zunehmend zu schnell dreht?

Eine Kapitulation, also? Vielleicht mehr ein Streben nach dem Ursprünglichen, eine Sehnsucht nach der Schönheit des Einfachen in gewisser Weise. Ein Entfliehen der städtischen Anonymität auf der Suche nach einem Ort, an dem man tatsächlich wohnt, statt dort nur zu verweilen.

Wir fangen an zu hinterfragen, ob die Stadt denn wirklich die einzig denkbare Lebensrealität für uns ist. Für viele von uns scheint das Dorf wie eine Art apokalyptische Lebens-Endhaltestelle. Dort wohnen Spießer oder solche, die es insgeheim mal werden wollen. Jenseits dieser Vorurteile kann man auf dem Dorf aber schnell mal aufs Rad steigen und losfahren oder einfach mal in den See springen, der direkt um die Ecke liegt. Man kann mal laiut sein, weil der nächste Nachbar nicht hinter der Wohnzimmerwand sitzt oder man kann in Hofläden bio und regional shoppen gehen. Mit ein wenig Kreativität lassen sich sogar ziemlich viele Stadt Features auf das Landleben übertragen, am besten, ohne dabei die ganzen Bugs gleich mitzunehmen.

Landleben in Frankreich, 2020

Musik N°3

Wer uns schon länger folgt sollte ihn kennen, den Soundtrack der Woche. Seit 2016 suchen wir 52,1429 mal pro Jahr (mal 52, mal 53!) einen besonders hörenswerten, hippen oder interessanten Track aus und teilen ihn. Wir sind überzeugt, so entsteht ein wilder wunderbarer Mix. Gewissermaßen bildet die Playlist aller SdW eine schöne Übersicht an Lieblingsmusik. Wir geben zu, aktuell schaffen wir es nicht immer wöchentlich zu liefern, aber wir arbeiten dran. Kürzlich war die belgische Powerfrau Angèle unser SdW. Warum sie beeindruckt, obwohl es eigentlich so gar nicht Felix Musik ist, lesen Sie am besten hier nach. Angèle’s Musik ist klug, poppig, ein bisschen traurig und gleichzeitig ein bisschen tanzbar und stehen somit doch sehr für unsere Zeit. 

Stadtflucht: Felix im Burgund, 2020

FLUCHT.

Und jetzt? Koffer packen, Möbel abbauen und los? Hat die Stadt ausgedient oder ist die Landlust, jene Sehnsucht der Städter, durch etwas anderes getrieben? Ein unterschwelliges Streben nach Komplexitätsreduktion und dem Einfachen? Vielleicht einfach eine mögliche Antwort auf die Suche nach dem guten Leben?

Ja, wären wir denn überhaupt fähig, auf dem Land zu wohnen? Montags wissen, was man Donnerstag Essen will, damit man Mittwoch nicht noch einmal zum Supermarkt ins nächste Dorf düsen muss. Machen wir uns nichts vor. Zwar wollen nahezu die Hälfte, der in Umfragen Befragten gerne aufs Land ziehen und die beschworene Stadtflucht war schon in der Schule ein mega Aufsatzthema, doch die wenigsten landen auch dort. Traumhaft ja, aber bitte nur für ein Wochenende: Heuduft und zur Ruhe kommen. 

Stattdessen eher eine kurze Flucht und dann ein Stück Natur in die Stadt bringen: Monstera oder stattlicher Dachgarten. Wir (jungen Menschen) genießen die Vielfalt der Stadt – unser höchstes Gut, Ausgangspunkt für unsere enorme Mobilität, der Nährboden unserer Kultur, unseres Seins oder für Spielereien wie diesen Newsletter. Wäre es nicht etwas naiv, vielleicht sogar fatal, das alles einfach über Bord zu werfen? Ruhe, einem bekannte Nachbarn, Dorf-Gossip,(teils bizarres) Brauchtum, Freizeit ohne etwas zu bezahlen. Zumindest würde es den Mut zum Risiko erfordern, enttäuscht zu werden und Verzicht zu üben. Wirklich? Die Frage könnte ja auch lauten, ob jene Vielfalt unausweichlich an das urbane Getümmel gebunden ist. Und, können wir unseren Sehnsüchten, den wirklich wichtigen Dingen, nicht sowieso unabhängig vom Ort nachgehen? 

Wohin geht es als Nächstes und wie geht es weiter? Das vermögen wir nicht zu prognostizieren, aber drüber Nachdenken macht Spaß und letztlich sind wir ja auch diejenigen, die Stadt-Land-Flucht gestalten. Setzen wir uns in Bewegung! Gestalten wir. Die Coronapandemie wird voraussichtlich unsere Städte nachhaltig umkrempeln und auch unser hohes Mobilitätspensum verändern. Und vielleicht zieht es uns ja langfristig doch raus aufs Land. Darauf ein kaltes Getränk!

Zum Wohl!   

Jan & Felix

Musik N°4

Dieser Song darf in einem solchen lettre natürlich nicht fehlen! Die Höchste Eisenbahn sind wundervolle Geschichtenerzähler. Poetische, oft melodramatische Texte, herrliche Bilder, viel Kitsch aber clever verpackt und umso schöner erzählt. 

In Raus aufs Land geht es eigentlich um Kai und wie Kai die Freundin klaut. Aber legt man Kai mal beiseite wird hier die Geschichte einer gescheiterten Stadtflucht erzählt.

    Und hier gibt es keine Busse
    Und die Landluft macht uns so frei
    Und ich liebe Autofahren
    Und du liebst inzwischen Kai

    Ist es das was du immer wolltest, was dir immer so stank?
    In unserer Zwei-Zimmerwohnung, meintest du das mit raus aufs Land?

 
Da ist er wieder, dieser Zwiespalt.

The end.

Das war unser zweiter Newsletter. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen. Wir freuen uns über Feedback, etwaiges Weiterempfehlen und auch über neue Abonnements. Tatsächlich wird sonst niemand von diesem Newsletter erfahren, da wir keine Werbung machen. Es bleibt also nur Ihre Empfehlung. Wie es so schön heißt: Subscribe now. Newsletter haben nachwievor etwas von Spam, Werbung, Nötigung. Leider, denn damit wollen wir nichts zu tun haben. In der ersten Ausgabe haben wir geschrieben, warum wir das Medium Email so toll finden. Nachlesen können sie das hier. Antworten und Feedback gerne an uns! Die Email zum lettre heißt: newsletter@kollektivindividualismus.de. Und im Internet kann man nach wie vor unsere Website besuchen, abhängen und staunen.

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SdW #234 Lescop – La forêt

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SdW #233 War – Low Rider

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lettre #001 edition: neu anfangen mit Felix & Jan

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Willkommen zum Newsletter von kollektiv individualimus!

Welcome to the newsletter of kollektiv individualismus! Please click here for the english version. 

 

Bonjour everyone!

Schön, dass Sie dabei sind! Wir versenden ab jetzt monatlich einen Newsletter zu einem Thema und etwas Musik. Ein paar schöne, wilde oder schön-wilde Zeilen, etwas zum Nachdenken, etwas zum Nachhören, etwas zum Lachen oder Weinen. Wir bleiben bei unserem alten Credo: Entspannen Sie dort, wo Gegensätze schöne Beobachtungen treffen. Wir spielen hier Ping Pong mit Ideen und Musik. As always: Ohne Werbung. Endlich ergibt alles keinen Sinn. Viel Vergnügen!

Schwerpunkt.

Wie fängt man neu an? Bevor wir physisch voneinander distanziert wurden, hatten wir, bei einem unserer vielen gemeinsamen Abende, die Idee eines Newsletters. Ein kleiner Neustart für unseren Blog, ein neues Gewand und neue Ideen im Zentrum des Geschehens. Für gewöhnlich nehmen wir uns ein weißes, leeres Blatt Papier und beginnen einfach mal zu skizzieren. Der erste Schritt war einfach das Gefühl oder sagen wir die Einsicht in die Notwendigkeit eines neuen großen Schritts. Et voilà, here we are. neu anfangen. Unsere erste Ausgabe von lettre wird versendet.

Okay, zugegebenermaßen wussten wir nicht, dass wir bald nicht mehr zusammensitzen sollten. Wie fragil ist bitte „Normalität“? Einerseits machte das den Neuanfang nicht unbedingt einfacher. Und auf der anderen Seite finden wir nun optimale Witterungsbedingungen vor, um zu starten. In dieser Zeit finden wir, bleibt nichts, wie es war. Fast alle erleben die Zeit gerade wie in einem Film. Ein Gefühl unwirklicher Wirklichkeit irgendwie. Plötzlich haben wir eine Krise, vor der sich alle fürchten, auch die Bornierten und nicht, wie bei der Klimakrise, die Vorausschauenden.

Wir lernen viel über die moderne Gesellschaft. Um Armin Nassehi mit Adorno zu zitieren: Es gibt keinen Ort außerhalb des Getriebes. Weder theoretisch noch empirisch. Das ist nicht neu, aber selten so sichtbar wie jetzt. Ist die Pandemie also eine Art Sehhilfe? Wir sehen plötzlich soziale Ungleichheit, globale Abhängigkeiten und neuen Nationalismus. Wir verstehen: Kurven, die nach unten gehen, können Hoffnung geben, fallende Zahlen sind auf einmal Zuversicht. Expansion ist kein Wert an sich, Entschleunigung kann die Sicherheit erhöhen und es kommt auf das Menschliche an, auf Solidarität und Kooperation, unbezahlte oder unterbezahlte Arbeit, überwiegend von Frauen, und emotionale Intelligenz. Wenn wir über den Atlantik schauen, sehen wir mit aller Deutlichkeit (und George Packer brachte das sauber auf den Punkt), dass Dummheit und Ungerechtigkeit lebensgefährlich sind, dass die Alternative zur Solidarität womöglich nur der Tod ist.

Wir lernen viel über uns selbst. Dauernder Sonntag. Zuhause bleiben. Über unsere Ungeduld. Über unser menschliches Bedürfnis nach Kopräsenz. Über Einsamkeit als Freiheit. Über einen Moment der Selbstkalibrierung. Wir begegnen unserem Selbst. Das sollten wir uns erhalten: innehalten, erneuern und wo möglich neu anfangen.

Wir dürften uns alle in letzter Zeit mit Kontemplation (ϑεωρία) beschäftigt haben, mit philosophischen Gedanken, Sinnfragen. Plötzliche Klarheit im Kopf vieler, obwohl wir als Gesellschaft im Nebel der unsichtbaren Bedrohung nur auf Sicht fahren können und sollten. Tage, an denen wir nichts kaufen. Der Himmel frei von Flugzeugen. Straßen für Radfahrer allein. Das kann man genießen. Wir müssen aber auch über die Schwierigkeiten der Isolation für viele weniger privilegierte Menschen sprechen. Endlich eine Auszeit vom stressigen Alltag in einer hyperglobalisierten Welt? Die Freude über Verzicht muss man sich auch leisten können. Meinen Balkon, die große Küche der WG und mein eigenes Zimmer als Rückzugsraum, das ist schon alles auch ein kleines bisschen Luxus. Die Corona Krise trifft viele hart, manche besonders heftig, aber es jammern vor allem – so wirkt es – die Homeoffice Beglückten. Andere wiederum entwickeln Verschwörungstheorien – eine Form mit Angst, Komplexität und Unsicherheit umzugehen, eine verständliche, aber gefährliche Art neu anzufangen. Machen wir uns nichts vor, nichts wird so sein wie zuvor. Ein seriöses Versprechen, dass alles so sein wird wie zuvor ist schwer vorstellbar und schlichtweg naiv.

Aber ein nachhaltiger Neuanfang, warum nicht? Die Maßnahmen waren wohl größtenteils alternativlos, aber die Rückkehr zu den genau gleichen, alten Krisen der Normalität ist es nicht. Vielleicht ist sie sogar unmöglich. Das Fenster steht sperrangelweit offen und eine sanfte Brise weht. Wir sollten neu anfangen. Alle gemeinsam.

Auf bald!

Jan & Felix

Musik. N°1

Musikalisch wollen wir anfangen mit einem Künstler, der es geschafft hat, einen Platz für (im weitesten Sinne) Klaviermusik in unserem Zeitgeist zu finden. Nils Frahm wird geschätzt von Liebhabern klassisch klassischer Musik, von Musikredakteuren bis hin zu Ravern (spätestens seit er mit DJ Koze am Soundtrack für den Film Victoria gebastelt hat). Im Funkhaus in Berlin durfte er sich sein Studio einrichten, auf Konzerten rennt er von einem Klavier zum nächsten und dreht an zahllosen Reglern herum. Er ist einer dieser verdammt coolen und liebenswerten Nerds.

Wir wollen zwei Stücke hintereinander hören:
In my friend the forest einer grandios puristischen Aufnahme bringt uns Frahm alles von seinem Piano direkt ans Ohr. Jedes Pedal, jede Stahlseite, Dämpfer, Gehäuse, Hämmer und Federn. Wir sind ganz zurückgeworfen auf das Wesentliche.
In sunson bleibt vom klassischen Klavier nicht mehr viel übrig, doch dieses Stück steht exemplarisch für das, was ihn ausmacht: Er schafft es, wilde Geschichten zu erzählen, die absolut in unsere Zeit passen. Geschichten kann die alte Klaviermusik auch. Nur die verstehen wir jungen Menschen oft (noch) nicht so ganz.

Das Internet.

Im Internet kann man nach wie vor unsere Website besuchen. Auch da haben wir ein wenig neu angefangen. Es wird ruhiger und lebendiger en même temps. Sie können unseren Dauerbrenner Soundtrack der Woche (kurz: SdW) hören, handverlesene Playlisten genießen und einfach eine Weile abhängen, wenn Ihnen danach ist.
 
„Soziale“ Netzwerke.

Wir verabschieden uns bald still und heimlich von unseren Social Media Accounts (Zugegeben, viel Aktivität war dort auch nicht zu verzeichnen). Wir wünschen uns eine bewusstere Auseinandersetzung mit den Dingen. Facebook und Instagram werden begraben. Wir setzen auf Sie und den Newsletter. Hoffentlich setzen wir aufs richtige Pferd!

Musik. N°2

Wie hören Sie eigentlich Ihre Musik? Spotify-Nutzern dürfte gegebenenfalls das Medium selbst einstweilend überfordern. So geht das zumindest mir phasenweise. Wenn die eigene Musikwelt nur noch aus einzelnen Tracks von Millionen – Pardon x-beliebiger – Künstler oder Künstlerinnen besteht. Alles verfügbar – nichts genießbar. Wann haben Sie das letzte Mal ein Album gehört? Einfach so von Anfang bis Ende, wie Papa. „Das ist ja eine Zumutung!“, werden Sie sich denken, aber hören Sie sich das ganze Album an! (Das geht besonders einfach mit CD’s oder Platten.)

Ein super Album, um diesen Genuss zu praktizieren, ist das neue Czenias von Nicolas Jaar, meinem absoluten Lieblingskünstler. Ich möchte jetzt nicht zu viel verraten, aber Sie werden nicht enttäuscht sein. Czenias heißt auf Spanisch Asche. Ein Symbol für Niedergang und Neuanfang gleichermaßen. Nicolas Jaar schafft ein Album mit ausnahmslos eigenartig andersartigen Tracks, was deren einzige Gemeinsamkeit darstellt und als eine Art Roadshow zu all den Grenzbereichen elektronischer experimenteller Musik verstanden werden kann. Einzig das letzte Stück klingt nach seinem unübertroffenem Debütalbum Space is only noise. Sie merken, der Mann hat auch ein Händchen für Titel. [Wer gleich einen Zoomcall hat und verdichtet konsumieren will, der darf etwas tricksen: Garden – Xerox – Faith Made of Silk (in dieser Reihenfolge)]

Musik. N°3

Weiter geht’s mit Isolation Berlin, die, neben der ebenso fantastischen Band Die Nerven, so ziemlich beste deutsche Rockband.
Inhaltlich bewegen sich die Jungs aus Berlin (surprise!) zwischen Hoffnungslosigkeit und romantischer Sehnsucht nach Sinn im Großstadtdschungel. Das klingt jetzt alles etwas Trüb, ist es vielleicht auch, doch sie treffen einen Nerv bei mir. Es ist die Ambivalenz zwischen der wilden, aufregenden, grenzenlos großen Stadt und der Anonymität und Gleichgültigkeit, der Ignoranz und des so schnell Vergänglichen, das uns doch alle irgendwie fasziniert und anwidert zugleich.

Ist es alternativlos oder fehlt einem nur der Mut, etwas Anderes zu probieren? Stadtflucht, ist das ein Ding? Für Isolation Berlin scheint der Zug zum Neuanfang abgefahren, ach eigentlich hält er hier gar nicht. „[Versunken] in der Isolation Berlin“ besingen Sie stattdessen ihre von der Großstadt zermürbten Seelen. Herrlich!

Ist es alternativlos oder fehlt einem nur der Mut, etwas Anderes zu probieren? Stadtflucht, ist das ein Ding? Für Isolation Berlin scheint der Zug zum Neuanfang abgefahren, ach eigentlich hält er hier gar nicht. „[Versunken] in der Isolation Berlin“ besingen Sie stattdessen ihre von der Großstadt zermürbten Seelen. Herrlich!

Musik N°4

Wenn ich mich an diesen Ort in Paris träumen will, dann höre ich Diane von Paul Bley und Chet Baker. Und im Angesicht der Coronazeit auch gemeinsam allein oder Alone Together von Chet Baker. Stark.

The end.

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SdW #233 War – Low Rider

War ist eine amerikanische Funk-Band aus dem Jahr 1969, die Elemente verschiedener Stile wie Rock, Jazz, Reggae und Latin kombiniert. Für alle Low Rider. https://songwhip.com/war/low-rider      Mehr Soundtrack der WocheOther SdWSITEMAP Soundtrack der...

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